Über den dokumentarischen Stil in der deutschen Fotografie

Die Fotografie prägt und verschliesst die Sicht auf die Vergangenheit; 
der dokumentarische Stil liefert eine Möglichkeit, sie aufzuschliessen. (Klaus Honnef)

 

 

Dokumentarfotografie
Retro-, Per- und Prospektiven

Während das politische System des „real existierenden Sozialismus“ in Europa beinahe friedlich kollabierte, vollzog sich auf dem Gebiet der visuellen Kommunikation mit dem Wechsel von den analogen zu den digitalen Verfahren der Abbildung eine Revolution, die den Namen wirklich verdient. Denn diese medientechnologische Revolution erschütterte die Welt bis in ihre Grundfesten samt noch immer unabsehbaren Folgen und begann sie systematisch umzuwälzen. Die Gleichzeitigkeit verblüfft. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass nennenswerte Zusammenhänge zwischen beiden Entwicklungen bestehen. Die symbolischen Bezüge sind freilich evident. Andererseits gibt die mutmaßlich zufällige Koinzidenz den Anstoß zu einigen Überlegungen, die im Rückblick mögliche Perspektiven auf die Zukunft einer dokumentarisch orientierten Praxis der Bild- und Abbildmedien eröffnen, auf ihre Authentizität im Zeichen wachsender Fiktionalisierung der visuellen Daten und Informationen; auf die Sphäre der Glaubwürdigkeit visueller Information überhaupt.

Zudem bietet sie ein Feld für fruchtbare Spekulationen über die Beziehungen von Realität und Medienrealität. Der Zusammenbruch des kommunistischen Systems begrub mit dem misslungenen gesellschaftlichen Experiment die wirkungsstärkste gesellschaftliche Utopie der Moderne. Allerdings hatte die sich schon lange zuvor in der politischen Wirklichkeit des „real existierenden“ Sozialismus selber diskreditiert. Fotografie und Film, nach dem Siegeszug der grafischen Blätter im Europa des 16. und 17. Jahrhundert die ersten Massenmedien in der Geschichte mit weltweiter Reichweite, haben den Versuch, die Utopie in der Realität zu erproben, mit denkwürdigen Bildern festgehalten, ohne ihm freilich einen zukunftswirksamen Nimbus verleihen zu können. Die Ursache liegt in einer medientechnischen Besonderheit. Denn wegen ihrer spezifischen Bildstruktur als technische Bildmethoden geschah die Fixierung zwangsläufig im Modus des unweigerlich „Gewesenen“ (Roland Barthes), im Modus der leisen Gewalt, die jeder Gegenwart definitiv die Gestalt des unwiderruflich Vergangenen verleiht. Das Moment des Retrospektiven verzehrte die utopischen Momente und lässt offenbar nicht zu, dass sich aus den aufgeführten Handlungen und Gesten so etwas wie Vorbilder oder konkrete Handlungsanleitungen entwickeln. Dabei haben Fotografie und Film in Sachen Dokumentation wesentlicher Ereignisse der wechselvollen Geschichte ohnehin schon deshalb öfter versagt, weil sie nicht zugegen waren oder nur in Form unzulänglicher Bildkompetenz. Eine nach trägliche Inszenierung wie in der Malerei üblich gilt als Fälschung. Zudem haben Fotografie und Film die aufgezeichneten Geschehnisse häufig nur propagandistisch verzerrt. Selbst eine um dokumentarisches Ethos bemühte Fotografie verkürzt die Ereignisse auf den jeweils einseitigen Blickwinkel des fotografischen Apparates. Der Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg fand ohne fotografische oder filmische Begleitung statt. Die meisten der „dokumentarischen“ Bilder, die den Gründungsmythos des Sozialismus sowjetischer Prägung spiegeln, stammen aus später gedrehten Spielfilmen. Und die eindrucksvollen Aufnahmen so bedeutender Repräsentanten der modernen Fotografie wie Aleksander Rodtschenko von der Aufbauleistung des sozialistischen Regimes, von dem Graben gewaltiger Kanäle und dem Bau großer Industriekonglomerate durch Zwangsarbeiter, darunter politische Häftlinge, dokumentieren lediglich ihren propagandistischen Zweck und nicht die tatsächlichen Verhältnisse. Totalitäre Systeme wie Kommunismus sowie Faschismus und Nationalsozialismus haben den Anspruch namentlich der Fotografie auf wahrheitsgetreue Wiedergabe des Realen nachhaltig beschädigt, indem sie ihn ins Gegenteil verkehrten. Es sind in erster Linie drei formale Innovationen,  die im 20. Jahrhundert zu einem dokumentarischen Stil in der Fotografie geführt haben: die Nutzung der seriellen Reihung durch August Sander (im Gefolge der enzyklopädischen Ansätze in der wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Fotografie des 19. Jahrhunderts), Walker Evans und Bernd und Hilla Becher, zweitens der Einsatz unkonventioneller Blickwinkel und innerbildnerischer Montageelemente durch die sowjetische „Revolutionsfotografie“ sowie das „Neue Sehen“ mit einem immanenten Hang zur Propaganda und zur Werbung und last but not least die Verwendung ungewöhnlicher Sichtweisen im Zuge einer neoveristischen Ästhetik durch Robert Frank, Chargesheimer und William Klein. Sämtliche Innovationen reflektieren nicht zuletzt auf die besondere Wesensstruktur des fotografischen Mediums, seine seriell-industrielle Produktionsweise, seine mechanische Aufnahmetechnik und seine konstruktivistische Eigenart. Seither hat in der dokumentarischen Fotografie formal eine Stagnation eingesetzt. Keine Frage, dass die technologische Umwälzung für die Fotografie einschneidende Konsequenzen zeitigt (und längst gezeitigt hat). Ihre Authentizitätsbasis als eines prinzipiell indexikalischen Zeichens ist erloschen. Das Licht vermittelt nicht mehr direkt zwischen Objekt und Bildträger, sondern löst einen algorithmischen Prozess aus.  Die empfangenen Bild-Informationen lagern sich nicht mehr unmittelbar wie ein Abdruck auf einer belichteten Filmschicht ab, sondern sie werden in eine Rechenoperation umgewandelt mit dem Ergebnis einer Mimesis nicht einer vorgegebenen Motivwelt, sondern des fotografischen Bildes. Im optischen Eindruck verwischen sich deshalb die grundsätzlich unterschiedlichen Bildverfahren bis zur Ununterscheidbarkeit ebenso wie die weitgehend schon als akademisch empfundenen Unterschiede zwischen inszenierter und ungestellter Fotografie. Damit werden die Beteuerungen der Fotografen, die Dinge wahrheitsgetreu zu schildern, und über prüfbare Behauptungen ohne jede Beweiskraft. Andererseits ist mit der technologischen Umwälzung nicht das Ende der Fotografie gekommen, nicht einmal der analogen, die zumindest als künstlerische Technik überleben wird. Nichtsdestoweniger erfährt der dokumentarische Zweig des fotografischen Bildes eine Umwertung. Künftig wird sich seine Glaubwürdigkeit darauf stützen müssen, dass der Autor, die Autorin der Bilder ihre Aufnahmen als subjektive Vergegenwärtigung bestimmter Ereignisse und Situationen deutlich kenntlich machen und gleichermaßen auf der jeweiligen Betonung der Bilder als Bilder abheben, die hinsichtlich einer wie auch immer beschaffenen Wahrheit prinzipiell den gemalten Bildern nicht überlegen sind. Darüber hinaus ist es nicht verwegen vorherzusagen, dass mit der ständig noch wachsenden „ästhetischen“ Raffinierung der Bilderwelten das Bedürfnis nach unkünstlicher, wirklichkeitsnaher und fassbarerer Darstellung des Realen im Sinne der kommunizierenden Röhren zunehmend steigt. Der Erfolg des Dokumentarfilms in jüngster Zeit belegt das nachdrücklich. Doch wäre es verfehlt, daraus auf einen größeren Anteilan Wahrhaftigkeit zu schließen; vielmehr manifestiert sich in der Hinwendung zum ‘echten Leben’ lediglich ein stilistischer Wechsel. Die Welt anders zu schildern und zu betrachten, als die eingeschliffenen und sich bald zu Klischees verhärtenden Konventionen es wollen, wird die kollektive Wahrnehmung deshalb auch weiterhin herausfordern und umformen. Bedingung ist indes, dass die Fähigkeit, Bilder zu „lesen“, zu dechiffrieren, um ihrer unstrittigen Verführungskraft nicht kritiklos zu unterlegen, beständig geschärft und trainiert wird. Dazu bedarf es indes der Anstrengung sowohl auf Seiten der „Konsumenten“ als auch der (Aus) - Bildung. Hier liegt in Deutschland zweifellos sehr vieles im Argen. Umso notwendiger sind die Impulse von Ausstellungen, Sammlungen, Podien, Texten und Vorträgen, die solche Absicht realisieren.
Klaus Honnef

Der Text entstand in Folge der Podiumsdiskussion
„Über den dokumentarischen Stil in der deutschen Fotografie“
am 9. Dezember 2009 im Museum der Bildenden Künste Leipzig.

An der Diskussion nahmen neben Prof. Klaus Honnef, freier Autor und Kurator, der Dokumentarfilmer Andreas Voigt, Dr. Hans-Werner Schmidt (MdbK Leipzig) und Frank-Heinrich Müller (Kustos der EAST-Sammlung) teil. Die Diskussion fand anlässlich der Ausstellung „EAST – For the Record / Zu Protokoll“ statt, zu der ein Buch im Steidl Verlag erschienen ist. Eine Besprechung der ersten Station dieser Ausstellung von Andreas Krase ist in Photonews Mai 2009 erschienen.