Leipzig im Herbst
Dokumentarfilm — DDR, 1989, s/w, 53 min.
Regie: Andreas Voigt und Gerd Kroske
Produzent: DEFA-Studio für Dokumentarfilme
Drehbuch: Andreas Voigt und Gerd Kroske
Kamera: Sebastian Richter
VIDEO LINK (5:22 min) Trailer, Andreas-Voigt-Film.de
Demonstrationen und Diskussionen in Leipzig zwischen dem 16. Oktober und 7. November 1989. Interviews mit Teilnehmern der Massendemonstrationen, Gespräche mit den Müllmännern, die Banner und Plakate entfernen müssen – und dann doch gestehen, dass sie die darauf geschriebenen Forderungen berechtigt finden. Die aufgezeichneten Debatten unter Kollegen in den Betrieben spiegeln das Denken und Fühlen in der Anfangsphase des gesellschaftlichen Umbruchs wider. Zur Einschätzung der Lage äußern sich Vertreter des Neuen Forums, Theologen, Volkspolizisten, ihre Vorgesetzten und Staatsfunktionäre. Damals festgenommene Demonstranten zeigen nach ihrer Freilassung die Pferdeställe, in denen sie mit zig anderen zusammengepfercht 20 Stunden und mehr auf nacktem Betonboden stehend warten mussten. Ein junger Wehrpflichtiger, der auf Seiten der Volkspolizei zum Einsatz kommt, bekennt: „Ich habe mich unheimlich geschämt, für diese Misspolitik, die hier gemacht wurde, meine Person herzugeben … als Polizist diese Politik zu verteidigen, obwohl das gar nicht in meinem Sinn war.“
Nicht mal ein Dutzend DEFA-Dokumentarfilmer klemmen sich in diesen entscheidenden Tagen die Kamera unter den Arm und sammeln Material von der Wende. Voigt, Kroske und Richter versehen ihre Kompilation dementsprechend mit dem Untertitel: „Ein Material“. Sie ist die erste und bis heute vermutlich umfassendste Dokumentation der Ereignisse um den 9. Oktober. Das Filmteam bleibt dicht am Geschehen – vielleicht könnte ihr Film noch einen Beitrag zum Wandel leisten. Doch die Wirklichkeit überholt sie. Der Film wird auf dem Dokumentarfilmfestival in Leipzig 1989 als erster Rückblick gezeigt. Bis heute bewahren die Bilder ihre Unmittelbarkeit und durch ihre Authentizität und Glaubwürdigkeit sollten sie immer mal wieder eingesetzt werden, wenn „Volkes Wille“ unter den Schutt der letzten Jahrzehnte gerät.
Prädikate / Auszeichnungen / Festivals
Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm 1989: Goldene Taube (symbolischer Preis außerhalb des Wettbewerbs), Internationale Filmfestspiele Berlin 1990 (Forum): Werkschau der Regalfilme, Recine International Archive Film Festival Rio de Janeiro 2004
Andreas Voigt
Die Filme des Dokumentaristen Andreas Voigt sind geprägt durch ihre Nähe zu den Menschen. Der Regisseur sammelt ihre Geschichten, Träume und Hoffnungen auf, findet für sie bildliche Metaphern, sensibel hinterfragt er Lebensschicksale. Mehrfach reist der Regisseur nach Leipzig und dreht dort zwischen 1989 bis 1997 bislang fünf Dokumentarfilme, die eindrucksvoll gesellschaftliche und individuelle Veränderungen seit dem Zusammenbruch der DDR schildern.
Andreas Voigt wird am 25. August 1953 in Eisleben geboren. Seine Kindheit und Jugend verbringt er in Dessau. 1972 beendet er seine Schulausbildung mit dem Abitur in Halle. Danach beginnt er ein Studium der Physik an der Universität in Krakow. Nach einem Jahr verläßt er die polnische Universität und belegt an der Hochschule für Ökonomie in Berlin Seminare in den Fächern Volkswirtschaft und Wirtschaftsgeschichte. 1978 schließt er das Studium mit dem Diplom ab.
Seit 1978 arbeitet Andreas Voigt als Dramaturg und Autor im DEFA-Studio für Dokumentarfilme. Erste eigene Regiearbeiten legt er für das Kinderfernsehen der DDR vor, inszenierte einige Realfilme des Sandmann-Abendgrußes. Außerdem inszeniert er Magazinbeiträge für die Reihe DEFA-KINOBOX, die als Nachfolgerin der Wochenschau Unterhaltung und Information ins Kino bringt.
Andreas Voigt wird 1984 an die Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg delegiert. Hier studiert er extern im Fachbereich Regie. Sein Diplom-Abschlußfilm ALFRED (1987), in dem er den 76-jährigen Kommunisten Alfred Florstedt befragt und von dessen Leben in einer sehr subjektiven Erzählweise berichtet, wird mit dem „Findling“, dem Preis der Filmclubs der DDR als Bester Dokumentarfilm ausgezeichnet.
Nach dem Studium ist er Regisseur im DEFA-Studio für Dokumentarfilme, seit deren Abwicklung 1991 ist er freischaffend als Regisseur tätig. Mit LEIPZIG IM HERBST (1989) dokumentiert Andreas Voigt gemeinsam mit dem Co-Regisseur Gerd Kroske und Kameramann Sebastian Richter die Umbruchzeit in der DDR. Zusammengesetzt aus Interviews und Bildern der eindrucksvollen Massendemonstra-tionen in Leipzig bringt der Film die Atmosphäre der Wendezeit, die Gefühle der Menschen zum Ausdruck. Essentielle Momente des Verfalls der DDR werden dokumentiert, die Menschen werden getragen von der Euphorie des Umbruchs. Mehrmals kehrt der Regisseur nach Leipzig zurück, dreht fünfmal in der Stadt. Der Leipzig-Zyklus wird mit fortgesetzt mit LETZTES JAHR – TITANIC (1990), das Bild wird differenzierter; es folgt die Ernücherung. Hier wählt das Filmteam ganz konkrete Lebens- und Alltagsgeschichten aus, die Wende wird mit Euphorie und Resignation aufgenommen, Menschen bleiben auf der Strecke oder sehen aber auch ihren Vorteil bei der eiligen Wiedervereinigung. Über ein Jahr hinweg begleitet Andreas Voigt in GLAUBE, LIEBE, HOFFNUNG (1994) eine Gruppe Jugend-licher in Leipzig von Dezember 1992 bis Dezember 1993. Gewalt und Aggression, Hoffnungen und Träume, Ängste und Agonie der jungen ostdeutschen Generation kommen zum Ausdruck. Er zeigt den Verfallszustand der Stadt, kontastiert ihn mit dem neuen Glanz der City. Seinen Protagonisten begegnet der Regisseur einfühlsam und kritisch. Er erhebt nicht den Anspruch, allgemeingültige Aussagen über die Radikalisierung der Gesellschaft zu treffen, beobachtet und läßt das dokumentarische Material für sich allein sprechen. Durch den Film kommt es auch zu einem kleinen Skandal: Der Immobilienmakler Dr. Schneider kommt zu Wort und kann die Grundsätze seiner Unternehmer-Ethik erläutern. Er erreicht durch eine einstweilige Verfügung durch das Amtsgericht Leipzig, daß der Film in seiner bisherigen Form nicht weiter aufgeführt werden darf. Sollte dies doch geschehen, dann hat der Verleih mit einer Geldstrafe von 500 000 DM zu rechnen. Nachdem Teile des Films durch Schwarzfilm ersetzt werden, läuft der Film trotzdem. Erst nach dem Verschwinden des Immobilienbetrügers wird das Bilderverbot aufgehoben. Nochmals kehrt der Regisseur in GROßE WEITE WELT (1997) nach Leipzig zurück, besucht seine älter gewordenen Protagonisten. Was ist aus den Hoffnungen und Sehnsüchten von damals geworden? Die Bestandsaufnahme gerinnt zum Porträt von mehr oder minder weniger Enttäuschten, die sich in ihrem Leben eingerichtet haben. Etwas Wehmut kommt auf, Larmoyanz erlaubt sich das Filmteam nicht.
Dazwischen dreht der Regisseur auch in anderen Regionen, bleibt aber den Thema der jüngsten deutschen Geschichte verbunden. In GRENZLAND – EINE REISE (1992) blickt er Menschen, die in an der Oder/Neiße-Grenze leben: deutsche und polnische Nachbarn. Mit OSTPREUSSENLAND (1995) entdeckt er eine weitere Gegend, in der sich deutsche, polnische und russische Geschichte treffen. Für 3sat dreht Andreas Voigt zwischen 1997 und 2006 mehrere Dokumentationen für die Reihe „Fremde Kinder“, darunter DAVID@NEW YORK (2001) und DER MUSIKANT AUS DER TATRA (2003). Mehrfach arbeitet er für das Fernsehen. In einem seiner letzte Beiträge reist er entlang des riesigen Flusses Ob durch Westsibirien.
2004 ist es sein langer Dokumentarfilm INVISIBLE – ILLEGAL IN EUROPA (2004), der auf zahlreichen Festivals läuft und in Leipzig mit dem European DocuZone Award ausgezeichnet wird. Der Film erzählt von den Hoffnungen und Träumen fünf Flüchtlinge, die sich illegal in Europa aufhalten. Das Filmteam blickt auf ihre Suche nach Glück, Liebe, Heimat und davon, was ihnen dabei widerfährt. Andreas Voigt verzichtet auf jeden Kommentar, lässt die Bilder und Interviewpassagen für sich sprechen. Mit Mitteln des großen Erzählkinos führt der Regisseur das politische Problem der Flüchtlinge auf uns alle verbindende, existentielle Lebensfragen zurück.
Seine Filmarbeiten führen Andreas Voigt unter anderem nach England und Indien, er dreht in Nicaragua und Südafrika, bereist Rußland und die USA. Von 1988 bis 1990 ist er Vorstandsmitglied des Verbandes der Film- und Fernsehschaffenden der DDR. Er arbeitet ab Mitte der 90er Jahre als Hochschullehrer an der Medienakademie Hamburg/Berlin sowie an Goethe-Instituten in Deutschland, Syrien und Indien.