Die Sammlung: Timeline

„Am Anfang stand, wie es mit großen Ideen so geht, eine einfache Beobachtung. Walter Kempowski saß 1948 hungrig und beschmutzt in einem Güterwaggon, der ihn, von einem sowjetischen Militärgericht zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, nach Bautzen bringen sollte. Bei einem Halt beobachtet er durch eine Ritze im Bretterverschlag ein spazierendes Ehepaar, sie im Blümchenkleid, er in Knickerbockern, sorglos im Sonnenschein. Das hat ihm den Schock von der Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren versetzt. Wie viel Glück und Unglück, Harmloses und Tragisches, Lebensbedrohendes und Idyllisches stapeln sich in jeder Weltsekunde aufeinander! Das ist so unendlich, so unfassbar wie die Zahlen, die zwischen eins und zwei liegen.“ (Iris Radisch über Walter Kempowski, „Das Echolot, Abgesang ’45, Ein kollektives Tagebuch“)

Die Idee für die Fotosammlung knüpft an diese Beschreibung an. Sie basiert auf der Gleichzeitigkeit und Unvereinbarkeit von Ereignissen zwischen August 1989 und Januar 1990. Foto­grafinnen und Fotografen wurden um ein persönliches Bild für diesen historisch bedeut­samen Zeitraum in Deutschland gebeten. Manche gaben ein Bild, andere mehrere. Nicht für jeden Tag ließ sich ein Bild finden. Daher sind auch die kalendarischen Lücken Bestandteil des Projekts. Im Vordergrund steht der schweifende Blick, der historisch und persönlich Bedeutendes und Marginales gleichermaßen aufgreift und nicht auf die voll­ständige Erfassung oder gar Repräsentation wichtiger historischer Ereignisse abzielt. Auf diese Weise erzeugt „Zu Protokoll“ eine multiperspektivische Chronik des Herbstes 1989. Eine lineare Erzählung wird damit bewusst vermieden. Die meisten Fotografien sind eher beiläufig entstanden. Erst mit dem Rückblick wurden sie von den Autoren aus ihren Archiven als ein Zeugnis dieser Zeit ausgewählt. Fast alle haben dazu ihre Erinnerungen aufgeschrieben oder Textdokumente aus der Entstehungszeit zur Verfügung gestellt.