Zauberwort Erinnerung: Die Ausstellung„EAST (for the record) in der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig

Andreas Krase

 

 

Vier Strolche stehen vor der Kamera. Scheinen irgendwie dem Zeltbettlager entkommen und sich ein wenig verlegen noch das Stroh aus den Haaren zu pelzen: „Saalfahrt, Paddler – Portrait mit Selbstauslöser“, 11. September 1989, eine Aufnahme von Max Baumann. Neben dem Fotografen finden sich Frank-Heinrich Müller, Thomas Wolf und Andreas Rost auf dem Bild wieder – nahezu das gesamte Studienjahr Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig des Jahrgangs 1988. Dieses Bild kann symptomatisch für das gesamte Projekt stehen und es hat auch eine besondere Bewandnis damit. Es zeigt nicht nur drei Autoren und mit Frank-Heinrich Müller zugleich auch den Kurator des fotografischen Teils der Ausstellung. Es illustriert auch sehr schön, dass, während in jenen Tagen die politische Spannung in der DDR hoch kochte, es weiterhin einen scheinbar unberührten Alltag gab. Die angehenden Künstler arbeiteten in der Provinz, dokumentierten historische Siedlungsstrukturen und Industriebauten. Erst im Nachhinein erwies sich, es war ein letztes Stillstehen des historischen Prozesses gewesen, bevor die Nachkriegszeit in diesem Deutschlands ungemein schnell zu Ende ging und damit auch viele der eben noch bildlich fixierten Strukturen verschwanden.

 

Noch bevor die Gedächtnismaschine zum 20. Jahrestag der „friedlichen Revolution 1989“ voll ins Rollen kommt, tritt mit „EAST“ in Leipzig ein höchst bemerkenswertes Projekt an die Öffentlichkeit. Frank-Heinrich Müller hat Beiträge von insgesamt 70 Autoren ausgewählt, die zwei Bedingungen zu erfüllen hatten: Sie sollten zu einem genau definierten Zeitpunkt zwischen dem 1. August und 31. Dezember 1989 entstanden sein und aus Sicht der Fotografen ein spezifisches Moment ihrer persönlichen Erinnerung bezeichnen. Die Ausstellung ist Ergebnis einer zeitaufwändigen Recherche, ohne Zweifel eine Energie- und Fleißleistung. Im Projektpapier wurde eine „Generation 40 +“ als Ziel- und Teilnehmergruppe benannt – zu einem guten Teil aus der von Müller betreuten fotografischen Sammlung der Verbundnetz Gas AG und seinem persönlichen Umfeld stammend. Doch geht das Projekt inhaltlich über den letztlich regionalen Rahmen hinaus, da es nicht auf das Gebiet der damaligen DDR beschränkt war: Ein Beispiel extremer örtlicher Entfernung gibt Wim Wenders mit seinen beiden Fotografien aus einer der abgelegensten Regionen Australiens.

 

Diese etwas andere Ausstellung zum Herbst einer deutschen Revolution orientiert sich vom Konzept her an Beispielen einer Geschichtsschreibung durch das authentische Material, etwa dem „Echolot“ von Walter Kempowski. Doch gibt einen generellen Unterschied: Die Retrospektive wurde von den jeweiligen Beitragenden selbst und bewusst vollzogen. Die Fotografen waren eingeladen, eben nicht jene Bildmotive abzurufen, die inzwischen zur Ikonografie jenes geschichtlichen Prozesses geronnen sind. Wiewohl diese nicht ganz fehlen - Demonstrationsfotos, Bilder von der Öffnung der Grenzen und den sich anschließenden Wanderbewegungen von Ost nach West gibt es in einiger Zahl. Gefragt waren vielmehr Fotografien, deren Bedeutung aus ihrer Zuweisung in eben diesen Ereignisrahmen rührt, die besonderen, die privaten Perspektiven. „Auch in der Nazizeit war zwölfmal Spargelzeit“ schrieb Max Goldt. Während Geschichte gemacht und im Nachhinein zu Strukturen gewichtiger Ereignisse verdichtet wird, zerfällt die Zeit in Myriaden unabhängiger Partikel. Dem fotografierten Alltäglichen und Zufälligen kann besonderer Glanz daraus erwachsen, dass sich späterhin eine Einordnung in den historischen Veränderungsprozess ergab. Dies leisten in der Ausstellung die erweiterten Bildkommentare der Fotografen, schriftlich fixierte Erzählungen über die Umstände, unter denen die Aufnahmen entstanden. Dies geht allerdings nicht so weit, dass die Fotografien lediglich als erinnerungsauslösende Indices fungieren. Die Präsentation ist eine Bild-Lese-Anordnung zur gegenseitigen Vertiefung, doch funktionieren beide Reflexionsebenen auch unabhängig. Ein in der Ausstellung verfügbares Textheft lädt zum Kennenlernen fremder Erinnerung ein, die Fotografien offerieren einen visuell höchst disparaten Parcours durch die Zeit.

Chronologisch nach Tagen geordnet und nach einem mathematisch wirkenden Prinzip platziert, formen die Fotografien zufällige Erzählungsmuster an den Wänden des Ausstellungsbaus. Sie konstruieren wiederum eine eigene Geschichte nach dem surrealistisch poetischen Verfahren des Aufeinandertreffens des Unzusammenhängenden.

 

Die Ausstellung summiert den ungemein vielgestaltigen Prozess einer durchgreifenden gesellschaftlichen Veränderung, wie sie im Gefolge der friedlichen Revolution geschah, in einer Art Facettenbild mit unterschiedlichen Brechungswinkeln: Ein Vexierbild, jedoch eines, das die bildgestützte kollektive Erinnerung an das Ereignis erweitern könnte.