Eine Weltsekunde

Neues Kapitel des Carte-Blanche-Projekts in Leipzigs Galerie für Zeitgenössische Kunst

Leipziger Volkszeitung 15.04.2009

Von MEINHARD MICHAEL

Leipzig. In der Galerie für Zeitgenössische Kunst ist neuerdings die VNG Verbundnetz Gas AG an der Reihe.

Das Unternehmen präsentiert sich mit Fotos aus dem Wendejahr und Werken aus der Kunstsammlung …

In diesem Falle sind 20 Jahre wenig. Dicht an dicht und übereinander sind die Fotos vom Sommer 1989 bis in die erste Jahreshälfte ’90 gehängt. Man geht unweigerlich mit hinein in diese Monate, in ihre Spannung, ihre Dichte, ihre Dramatik; in ihre Melancholie, die Lakonie, in die Enge und die Perspektiven an irrlichternd veränderten Horizonten. Leipzig und Berlin sind die Zentren der Welt. Die gleichen Tage in Australien und in der New Yorker Bronx, in Kühlungsborn, Köln, Rom und Port Bou, in Georgien, Bukarest und Leningrad formieren das bunte Bühnenbild. Gespielt wird ein Stück Weltgeschichte, das die Agonie davor erlöst. Den halben Flachbau der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig nimmt dieser abenteuerliche Gang ein. Anschließend entspannt die Kunst auf der zweiten Hälfte des Parcours.

Dokumentation des Wandels

Als Station VI des Projektes Carte Blanche ist die VNG – Verbundnetz Gas AG dran. Sie präsentiert sich mit der aktuellen Erweiterung der Fotosammlung des Unternehmens und einem Querschnitt der Erwerbungen an Malerei und Grafik. Verbundnetz AG, ist das nicht das Gebäude im Nordosten Leipzigs, mit dem großen Lichthof, in dem die Paris-Bar-Installation von Michael Fischer-Art steht?

Das Fotoarchiv von VNG ist umfassender als jetzt vorgestellt. Es zielt auf die Dokumentation der Umwandlungen in Ostdeutschland im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Es wird also, konzentriert auf Landschaft und Industriefotografie, einen Zeitvergleich des Weltenwandels ermöglichen, zumindest der sichtbaren Verhältnisse.

Die Ausstellung widmet sich dem Herbst ’89. Ein Leitgedanke dabei ist die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen: Wie das Land und die Welt leben, zwischen Geburten und frühem Reif, ob in München und Berchtesgaden; was zwischen zerfledderten Autoleichen in Amerika passiert und warum Touristen hasten in Südengland. Erzeugt wird ein breites Spektrum auch privater Perspektiven von insgesamt 70 Fotografen Ost (mehr) und West – aus diesen historischen Monaten.

Rückblickend fällt auf, wie schnell die dokumentarischen Aufnahmen der grauen Armeleuterealität oder der politischen Rituale in der DDR exotische Züge annehmen. Doch es war pures Festhalten des absurden Faszinosums vor dem überraschenden Ende. Gleichzeitig gewinnen diese Aufnahmen schnell an historischem Gewicht. Der Effekt des Unwiederholbaren adelt sie. Aus der Menge an hervorragenden Fotografien wird jeder Besucher seine Favoritenliste anders zusammenstellen (zum Beispiel: Sybille Bergemann, Ulrich Wüst, Helga Paris, Renate Zeun, Thomas Steinert, Frank-Heinrich Müller, Gerhard Gäbler, Regina Schmeken, Arno Fischer, Timm Rautert, Michael Ruetz, Peter Oehlmann).

Die Aufnahmen sind mit Daten versehen, der Zeitstrahl läuft mit. Wie immer ist der künstlerische Wert nicht von der Höhe des geschichtlichen Moments abhängig. Doch für die markanten politischen Einschnitte ist das Datum des Fotos wichtig, mit ihm streift man durch Herbst und Winter ’89/’90.

Hier wird Geschichte geschrieben

Die Fotografen wurden um lesenswerte Kommentare gebeten, in der Ausstellung auszuleihen – der Katalog wird noch gedruckt. Matthias Hoch berichtet, Prof. Evelyn Richter hätte ihnen hochempfindliche Schwarzweißfilme besorgt, da die Demonstrationen im Dunkeln stattfanden und Blitzen aufgefallen wäre. Sie hätte gleichsam die Jüngeren verpflichtet: Hier wird Geschichte geschrieben, wenige Wochen lang: eine Weltsekunde, die festgehalten werden muss.

Mit dem seltenen Bild einer irrsinnig umtanzten hohen Mauer von Werner Tübke beginnt die Kunstsammlung. Fischer-Art haben die Kuratoren – Christine Rink und Frank-Heinrich Müller, mit Ilina Koralova und Barbara Steiner für die GfZK – nicht mitgebracht.

Zwei Stärken der Sammlung seien genannt. Weil schon 1992 begonnen wurde sie anzulegen, findet sich eine stilistische Gewichtung gewisser Übergangsjahre so gut wie sonst vermutlich nirgends. Viele Künstler der ’90 ausgebildeten Generationen mussten ihr bisheriges Werk nicht in einer radikalen Tabula rasa abbrechen. Was vorher lange begonnen worden war, setzte sich mit bemerkenswertem Niveau fort: Eine figurative Grundstimmung dient dem umschmelzenden Suchen einer bildreifen, kraftvollen Erfindung. Die bereits älteren Künstler dieser Richtung sind Jens Hanke, Petra Kasten (Dresden, hier schwächer), Anette Schröter, Gudrun Petersdorff, Olaf Nicolai, Roland Borchers (mit einem späteren Bild vertreten) sowie Hirschvogel, Nicolai Angelow, Jan Dörre und Ulrike Dornis.

Die zweite Stärke ist ihre Auswahl aus den in den letzten zehn Jahren reüssierten Generationen. Dank Christine Rink als Vermittlerin war der Kontakt zur hiesigen Hochschule immer eng. Ältere Kandidaten wurden eher zufällig berücksichtigt. Wiederum würden verschiedene Augen jeweils anderes hervorheben: Die frühen Bilder von David Schnell vielleicht oder Werke von Michael Kunert noch aus seiner flüssig-lockeren Phase. Oder erstaunlich klassisch-formbewusste Tuschen von Oliver Kossak, geklärte Grafik von Neo Rauch, ein flüchtiges Stück von Matthias Weischer, meditative Konzentration von Sebastian Rug – und mehr.

Dicht an der Gegenwart

Die Kunst beruhigt die vorherige Aufregung. Sie führt an die Gegenwart heran. Bemerkenswert ist deshalb die feine Schwingung der eigentlich zweigeteilten Ausstellung: Zeitgeschichte ist nah und fern zugleich …