Hans-Christian Schink Budapest . Lenin steht noch in Budapest
In den Semesterferien 1987, nach meinem ersten Jahr an der HGB Leipzig, war ich eine knappe Woche mit der Kamera in Budapest unterwegs. Im zweiten Studienjahr habe ich die dort entstandenen Bilder zu einem Buchentwurf zusammengefasst und mit einem kurzen Vorwort versehen:
Sechs Tage in Budapest. Mein Interesse gilt, wie überall, zuerst dem, was auf der Straße passiert. Zufällige, eigentlich nicht ungewöhnliche Konstellationen, die aber, festgehalten, plötzlich paradox wirken, machen für mich die Faszination dieser Stadt aus. Mein Verhältnis zu Budapest bleibt jedoch zwiespältig. Es fällt mir schwer, hinter die Fassaden zu sehen, Hintergrundwissen ist nötig. Der Alltag teilt sich nur in Andeutungen mit, sechs Tage sind zu wenig, um zu erfahren, wie man in Budapest lebt. Auffällig ist die allgemeine Geschäftigkeit, Ruhepunkte zu finden, ist nicht leicht, selbst dort, wo ewige Ruhe herrschen soll, ist die Stadt als Geräuschkulisse gegenwärtig. Vielleicht ist hier etwas verloren gegangen von der selbstverständlichen Gelassenheit, mit der sich manch andere Großstadt präsentiert. Budapest ohne Touristen ist für mich kaum vorstellbar, die Stadt lebt von ihnen und, vielleicht schon zu sehr, durch sie. Sie bringen einen Hauch von Welt mit, doch auch der hat seinen Preis. Die Attraktivität wird wohlberechnend verkauft. Den Blick auf die eigene Identität gönnt man sich dort, wo er Gewinn bringt. Verklärt wird er sicher nicht nur von zahlungskräftigen Käufern original ungarischer Volkskunst. Die Stadtkultur gibt sich bedarfsgerecht modern. Offenheit für internationale Trends ist angesagt. McDonald’s hält Einzug durch die Hintertür, die Arnold Schwarzenegger mühelos aufgestoßen hat. Lenin steht noch in Budapest.
Lange im Voraus geplant, fuhr ich am 14. Oktober 1989, trotz aller Ereignisse in den Tagen zuvor, wieder nach Budapest. Am Abend des 16. Oktober berichtete das ZDF nicht nur von der Montagsdemo in Leipzig, sondern auch von der Demontage des Lenin-Denkmals in Budapest. Tags darauf habe ich meine Aufnahme von 1987 wiederholt.