Merit Schambach Berlin, Schönhauser Allee

Berlin, Schönhauser Allee

Die Fotos sind in der Nacht des 7. zum 8. Oktober 1989 entstanden. Am Abend hatte sich auf dem Alexanderplatz ein Demonstrationszug formiert. Es ging Richtung Prenzlauer Berg. Dort wurde der Demonstrationszug von der Polizei eingekesselt. Ich war erst draußen und dann drin im Kessel und habe mit einer kleinen Minox fotografiert. Problematisch, weil verräterisch, war das Blitzen, denn die Staatskräfte hatten nicht vor, ihr Tun auf diese Art verewigen zu lassen. Aber die Leute um mich herum haben mich geschützt, indem wir alle ein unschuldiges Gesicht machten und mit unseren Blicken die Kamera in einer anderen Ecke suchten.

Die Demonstranten waren und blieben friedlich, die Polizei weitestgehend auch. Plötzlich kamen aber Armee-Laster angefahren, die Leute wurden eingesammelt und auf den Laderaum verfrachtet. Ich war noch einen Augenblick am überlegen, ob ich ‚mitfahren‘ solle, um zu sehen, was passiert. Das war das erste Mal, dass ich Angst hatte. Weil man nicht WUSSTE, was ­passiert. Es war so eine merkwürdige Situation, man konnte sich auf Normalitäten nicht verlassen – die Leute hätten genausogut zur Erschießung gefahren werden können.

Ich bin deshalb in eine Seitenstraße gelaufen, aber von vorn kamen schon Kampftruppen im Laufschritt um die Ecke gebogen. Ich bin in einen Hausflur hinein und wollte Richtung Dach­boden, kam aber nicht mal bis zum ersten Treppenabsatz. Eine Art Blockwart kam mir entgegen und scheuchte mich wieder runter. Und dann war es wie im Film – eine Sache von wenigen Sekunden: Ich stand vor der Treppe, wusste nicht wohin. Da öffnete sich eine Wohnungstür und eine Hand zog mich herein. Es waren schon mehrere Leute in der Wohnung, ich weiß nicht, ob die auch gerettet wurden oder sich alle kannten. Komisch, von den Leuten weiß ich eigentlich nichts mehr, die Wohnungseigentümer schienen irgendwie mit der Kirche zu tun zu haben. Ich habe erst einmal einen neuen Film eingelegt, weil – das kennt man ja aus dem Kino – der Film in der Kamera immer gleich beschlagnahmt wird. Die Kirchenleute mussten (und konnten zum Glück auch) Kampftruppler an der Tür abwimmeln. Wir konnten dann beobachten, wie im Hof die Mülltonnen durchsucht wurden und Hundestaffeln die unmöglichsten potentiellen Verstecke durchkämmt haben. Erst spät bin ich, als es ruhiger schien, nach Hause gegangen. Das sind eigentlich die Ereignisse, die ich mit der Wende verbinde. Ich war damals 18 und bin froh darüber, alt genug gewesen zu sein, um einiges zu begreifen, und jung genug, um noch unbekümmert an gewisse Sachen heranzugehen.