Michael Rutschky Erzgebirge . Hierher kommt die Geschichte nie

Erzgebirge . Hierher kommt die Geschichte nie
Berlin, Alexanderplatz . Als käme tatsächlich ein neuer Tag Zwönitz . Dort schaut es aus wie in meiner Kindheit Erzgebirge . Hierher kommt die Geschichte nie Berlin, Tiergarten . Die Mauer ist weg

Unterwegs im Beitrittsgebiet  Neulich, kurz vor der Revolution, hat euer Günter Gaus im Fernsehen erklärt, sagte die Schauspielerin, während wir zum Tee die geschmacklosen Schoko­ladenherzen aus der Kaufhalle knabberten, wir DDR-Bürger sollten doch auf gar keinen Fall durch überzogene Forderungen die Politik der kleinen Schritte gefährden, die uns – und euch – in den letzten Jahren langsam, aber stetig so viele Lebensverbesserungen gebracht habe. Du kannst dir vorstellen, wie wütend ich war: Der Gaus hat uns keinesfalls gute Ratschläge zu erteilen, was wir fordern dürfen und was nicht!

Das warst natürlich auch du, Gaus, der nicht so richtig verstand, was den Bürgern der DDR denn so reißend abging, und ganz richtig verstanden hattest du es immer noch nicht. Als die Flüchtlingsströme über Ungarn anhoben, Besetzung der bundesdeutschen Botschaft in Prag, Sonderzüge – da pflegte meine Freundin Jutta zu behaupten: Man müsse Parallelen zur Emigration aus religiösen Gründen suchen, der Kelch in zweierlei Gestalt, die Messe auf Deutsch, die Protestanten verlassen Salzburg, die Hussiten ziehen nach Preußen; bloß geht es drüben nicht um den Laienkelch beim Abendmahl, sondern um Konsumchancen.

Hat sie es dir jetzt klarmachen können, die Schauspielerin, wie unerträglich das Leben in der DDR geworden war, der Starrsinn der Altmännerriege, die Anmaßungen der Stasi, der Übermut der Ämter? Eigentlich war nichts mehr zu erklären. Die Revolution war abgerollt und hatte als Ereignisfolge ihre eigene Beweiskraft. So habe ich es auch später immer wieder erlebt auf der Reise: Man referierte einfach, was zu den verschiedenen Terminen los gewesen war, am 9. Oktober, am 4. November. Die mythenbildende Erzählung hatte angehoben.

Auch war da die Revolution noch ganz unschuldig und ohne Inhalt, über den man streiten kann. In Leipzig, das der Schriftsteller Christoph Hein – er werde furchtbar überschätzt, behauptete die Schauspielerin: die Intelligentsia der DDR hat die Konkurrenz immer genauso heftig gepflegt wie die westdeutsche, bloß durfte sie das kaum öffentlich tun –, in Leipzig, das Christoph Hein die ‚Heldenstadt der DDR‘ genannt hat, war noch keine dieser verzweifelt-nationalistischen Parolen aufgetaucht, „Deutschland einig Vaterland“, voller Ingrimm skandiert. Kein Pressefotograf hätte den jungen Mann gefunden, der, in eine schwarzrotgoldene Fahne gewickelt, die linke Hand zum Hitlergruß ausstreckt, eine andere schwarzrotgoldene Fahne in der rechten, in der Bundesrepublik und DDR nur noch eine gemeinsame Grenze haben und die des Reichs von ’37 skizziert ist, „Deutschland mein Vaterland“ steht darauf in Fraktur zu lesen: Eine billige Stasi-Provokation! hätte die Schauspielerin sich empört. Tatsächlich hatte ich in einer unserer Zeitungen gelesen: Während der ersten großen Montagsdemonstrationen pflegten sich SED-Mitglieder unter die Massen zu mischen und sie zu warnen, dies du und dies da und dies da sei ein Provokateur des Staatssicherheitsdienstes. Aber die Schauspielerin interessierte sich nicht für die Geschichte. Nichts, aber auch gar nichts, was mit der SED zu tun hatte, interessierte sie noch. Weg damit! So habe ich es auch späterhin immer wieder erlebt. Nicht dass die SED sich reformiere, war der dringende Wunsch, sondern dass sie in der Opposition verschwinde. Wir waren dann ins Ost-Berliner Zentrum gefahren, ein nebliger Novemberabend. Prinzipiell ist im Sozialismus die Innenstadt immer dunkler gewesen als bei uns, weniger Straßenlaternen, kaum Leuchtreklamen.

Du hast sehen wollen, ob sich das Ost-Berliner Zentrum, das eigentliche Zentrum der Stadt Berlin, sozusagen in seinem Seinszustand, seinem ontologischen Status, geändert habe nach der Revolution. Die Schauspielerin wollte mir die Stätten zeigen, über die, bei der Massen­demonstration vom 4. November, die Leute hingeflutet waren zum Alexanderplatz. Sie begann mir, was ihr leicht geschieht, eine kindliche Fröhlichkeit, einen ungehemmten Enthusiasmus vorzuspielen. Dort habe sie gestanden, mit ihrer Enkeltochter auf dem Arm. Das machen wir für dich, Kiki!, habe sie dem zweijährigen Mädchen zugerufen – sie spielt es vor –, na!, habe da eine ältere Frau freundlich-streng eingewandt – auch das spielt sie vor –, ein bisschen was wollen wir doch selber davon haben!

Dann sind wir im „Café Bauer“ gesessen, eines der Lokale im luxuriösen „Grand Hotel“ an der Friedrichstraße. Zehn Prozent ihres Personals, erzählte die Schauspielerin, sind ihnen bei der Fluchtwelle abhanden gekommen, und so etwas ist eine anhaltende schwere Demütigung gewesen: Nicht einmal ein gut funktionierendes Luxusetablissement wie das „Grand Hotel“ – oder das „Palasthotel“ gegenüber vom Dom – konnte sein Personal verlässlich binden. Das musst du dir vorstellen! sagte die Schauspielerin, es wurde schwierig, beim Friseur einen Termin zu kriegen, weil immer mehr Friseusen abgehauen waren!

Unterdessen schrieb ich mir aus der Karte ab: Schoko-Sahne-Shake. Vanilleeis, Schokosirup und Sahne gemixt, 9 Mark 55. Unvermeidlich kommt einem in der DDR die Erinnerung an die Bundesrepublik der fünfziger Jahre. Glasscheiben oben auf den hölzernen Trennwänden, notierte ich, mit mattierten Ornamenten, die aber nicht eingeschliffen sind, sondern nur irgendwie aufgebrannt. Auch das muss eine anhaltende Demütigung gewesen sein: dass das, was wenigstens von ferne so aussah wie im Westen, bei näherer Betrachtung auch nicht standhielt. Alles bloß Imitate.

Unterdessen war die Schauspielerin dabei, mir ein Geständnis zu machen: Sie habe sich ja immer wieder gefragt, schon in den fünfziger Jahren, aber auch später immer wieder, warum eigentlich sie nicht in den Westen gehe? Und eigentlich sei immer wieder die Antwort gewesen: Weil du nicht gut genug bist. Sie hätte sich unter den Konkurrenzbedingungen des Marktes im Westen nicht durchsetzen können. (Und dafür, dass es ihr in der DDR gelungen ist, hat sie ihren Staat immer auch ein bisschen verachtet.) Sie kommt aus einem kleinen Dorf in der Lausitz. Ihrer ursprünglichen Ausbildung nach ist sie Drogistin. Dann habe eine energische, zum Fürchten energische Tante in den fünfziger Jahren immer wieder erklärt, wenn du dann im Westen bist, kannst du deine eigene Drogerie aufmachen und viel Geld verdienen! Aber das wollte sie doch gar nicht; sie wollte Schauspielerin werden …

Dienstag, den 14. November, wir zitieren wieder aus dem Tagebuch. Blasser Sonnenschein, Kälte, ich gehe die Schönhauser Allee hinunter. Ein Geschäft für Zooartikel, im Fenster ein Glasbehälter mit Meerschweinchen, die sich zerzaust aneinanderkuscheln. Vor einer Dienststelle der Volkspolizei der finster blickende proletarische Macho, der wieder einmal gründlich in seiner Jungmännerehre gekränkt worden ist. Ein Werkzeuggeschäft mit kräftigen Zangen im Schaufenster, ein ganzes Sortiment, von denen ich aber sicher bin, dass sie bei der ersten Anwendung zerbrechen; „Klub der Volkssolidarität ‚Kurt Schwarzer‘“: in einem der Fenster Amateurfotos in mehreren Reihen, Darstellungen fröhlicher Geselligkeit, die gelb angelaufen sind und sich wellen. Ich bin voller Misstrauen. Wenn ich die Kamera ans Auge hebe und abdrücke, wird sich mir eine Polizistenhand auf die Schulter legen …

Du hattest die Nacht nicht, wie du instruiert worden warst – allerdings an der Grenzstelle schon nicht mehr instruiert worden warst –, im „Grand Hotel“ oder im „Palasthotel“ oder in einem anderen der sündhaft teuren Devisenhotels verbracht, sondern im Gastzimmer der Schauspielerin. Andernfalls wäre sie gekränkt gewesen. Und Schwierigkeiten, insistierte sie, wegen Devisenvergehens oder ähnlichem würde man mir nicht machen – fast sah es so aus, als wollte sie dann gleich eine neue Massendemonstration auf die Beine stellen!

In der DDR herrscht Familialismus: Selbstverständlich wurdest du gestern nach dem Ausflug ins „Café Bauer“ – ein berühmter Name aus der Vorkriegszeit – zu dem Freund der Schauspielerin, Romancier, mitgenommen und von ihm mit Abendessen versorgt. So ist es immer wieder auf der Reise gewesen: Stets wurde ich von Bekannten zu Unbekannten mitgenommen, die mich selbstverständlich an ihrem Familienleben, insbesondere an seinen Ess- und Trinkritualen teilhaben ließen. Selbstverständlich hält man sich an seine Familie und seine Freunde; an die vertraute soziale Innenwelt. Die Welt draußen war allzu lange von bösen und dummen Mächten besetzt. Dabei hätte ich der DDR gerne meine Devisen überlassen. Nach der Revolution wäre sie darauf kaum weniger dringend angewiesen als früher. Und ich gäbe sie viel lieber her.

Vom Abend bei dem Romancier ist dann viel auf der Weiterfahrt die Rede. Ich befinde mich in der Gesellschaft eines Dichters; kein alter Freund, sondern ein neuer Bekannter.

Ich habe mich ihm angeschlossen, weil er auf dem Weg ins Erzgebirge ist, in seine Heimatstadt, seinerseits auf Recherche für eine Reportage: Wie sich die Revolution in Schneeberg ausgewirkt habe. Nicht nur die Agenten des westdeutschen Kapitals, sondern auch die Agenten der westdeutschen Kulturapparate schwärmen in dem frisch geöffneten Land aus, um seine Ressourcen zu erschließen.

Waltersdorf, wir zitieren die Landkarte. Schönefelder Kreuz. Rangsdorf. Teltow. Der Romancier, erzählte ich, während ich das Auto steuerte, war voll begeisterter Wut oder wütender ­Begeisterung, wie es jetzt der Partei an den Kragen gehe, wie die Massen ihre langjährige Herrschaft ins Wanken brächten. Dabei ist, zum Zeitpunkt dieser Reise, Egon Krenz noch Partei- und Staatschef. Und was den Romancier bei der abendlichen Runde durch die Fernsehnachrichten, um 19 Uhr „heute“ im ZDF, um 19.30 Uhr die „Aktuelle Kamera“ in DDR 1, um 20 Uhr „Tagesschau“ der ARD: so hielten es alle, die ich gesprochen habe, so hielten ja auch wir in West-Berlin es seit Wochen – Genshagen, Abzweig Drewitz, Potsdam Süd, Ferch –,

was den Romancier so empört hatte, war, dass die Volkskammer nicht, wie erwartet, Prof. Dr. Manfred Gerlach zum Vorsitzenden und Nachfolger von Horst Sindermann gewählt hatte, sondern einen Mann der Bauernpartei, Dr. Günther Maleuda.

Damals befleißigten die DDR-Medien sich noch dieses byzantinischen Titelkults, den sie aber bald abschafften. So wie Manfred Gerlach seine hohe Reputation verlor und einer der „Wendehälse“ wurde, der sein Schäfchen rechtzeitig ins Trockene hatte bringen wollen. Das war doch wieder die SED, hatte der Romancier in strahlender Empörung geschimpft, Dr. Maleuda von der Bauernpartei, das ist doch immer ein besonders willfähriges Anhängsel der SED gewesen! Abzweig Leipzig. Beelitz-Heilstätten. Beelitz. Brück.

Im Grunde, hatte der Romancier, kichernd vor Begeisterung, gerufen, im Grunde hätte es doch krachen müssen, ordentlich krachen. Ohne Gewalt geht‘s einfach nicht.

Und der Sohn des Romanciers, 25, der schon ganz am Anfang dabei gewesen war, als Stasi und Polizei die Gethsemanekirche umstellten, wo sich die Demonstranten gegen Honeckers Staatsgeburtstagsfeier versammelt hatten – Treuenbrietzen, Niemegk, Rabenstein –, der junge Theatermann bedauert heftig, dass er nicht verhaftet und misshandelt worden sei. Nackt ausziehen und in Fliegerstellung an der Wand aufbauen. Unter Prügeln über den Hof der Kaserne gejagt. Mit Autos weit aus der Stadt herausgefahren und auf freiem Feld ausgesetzt.

Fläming, Köselitz, Coswig, Vockerode: Unbekannte Namen für unsichtbare Ortschaften. Wir sausen, ohne uns an die realsozialistische Geschwindigkeitsbegrenzung zu halten, weiter die Autobahn hinunter. Dessau Ost. Dessau Süd.


Statt „Schwerter zu Pflugscharen“, hatte der junge Theatermann ironisch geschimpft, Kerzen zu Colabüchsen! Die Öffnung der Mauer, der Grenze am 9. November, dass die DDR-Bürger sich endlich massenhaft, wenn auch höchst bescheiden an den Konsumgütern des Westens erfreuen konnten, der junge Theatermann hielt das für einen besonders perfiden Schachzug der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.

Bitterfeld. Doberstau. Schkeuditzer Kreuz. Was hat der Dichter auf dem Beifahrersitz zu dieser Geschichte zu sagen? Der Dichter, 37 Jahre alt, ist als sehr junger Mensch von der Erweiterten Oberschule direkt ins Zuchthaus gekommen. Leipzig. Markkleeberg. Espenhain – Espenhain! ruft der Dichter. Hier sind wir, wo die DDR am giftigsten ist. Es stimmte. Aus vielen Schornsteinen drang dicker Rauch, und ein Gestank erfüllte das Auto, dass ich die Ventilation abdrehen musste. Man versteht nicht, sagte der Dichter, wie hier überhaupt Menschen leben können. Die Siedlungen, sage ich, schauen aus wie bei uns in den fünfziger Jahren. Das werde ich, wie gesagt, im weiteren Verlauf der Reise oft und öfter sagen …

Donnerstag, der 16. November, wir zitieren wieder aus dem Tagebuch. Gestern, bei Vetter Lutz, dem Spediteur, gab es einen peinlichen Augenblick, als ich wegen des vielen Biers nach der Toilette fragen musste. Aufschneiderisch stolz tritt er normalerweise nach vorne – jetzt musste er mich kleinlaut vorbereiten, dass es keine Wasserspülung gibt. Der Kot landet, so sah ich selber, wie beim Eisenbahnwagenklo früher, auf einer Klappe, die vom Wasser, das man aus einer roten Plastikkanne darübergießt, nach unten geschubst wird. Heute, beim LPG-Vorsitzenden Vogel in Lindenau, zeigt mir die freundliche Mutter des Hauses den Weg in den ersten Stock. Es handelt sich um ein richtiges Plumpsklo, bei dem man den eingepassten Holzdeckel vom Loch nehmen muss. So etwas habe ich zuletzt 1959, vor dem großen Umbau, auf Salzmanns Hof in Spangenberg gesehen. Der Gestank ist durchdringend; an der Wand des Schachtes klebt eine ordentliche Portion vom Vorgänger. Aber während Lindenau ein kleines Dörfchen, eigentlich nur ein Weiler ist, wird Aue, wo Lutz, der Spediteur, in seinem schönen alten Haus lebt, von knapp 30 000 Menschen bewohnt.

Während die Bauernfamilie Vogel in Lindenau, hat mir der Dichter erzählt, ungewöhnlich und untypisch sei als Bauernfamilie – wunderbare Partys hatten sie in seiner Gymnasialzeit dort gefeiert –, könne er mir mit Lutz und seiner Familie ein richtiges DDR-Spektrum bieten, vom Deutschnationalen bis zum SED-Mitglied; Bruder Helmut, immer schon der Stillere, fast ein Intellektueller, der jetzt natürlich wieder als Verlierer dasteht.

Wir wollen aber das Kloproblem noch ausarbeiten. Es dürfte schwierig sein, im tiefsten Bayerischen oder Westerwald ein Plumpsklo zu finden. Wobei die Reinlichkeit auch von Bauern im Erzgebirge weniger scharf gefordert wird als von Kleinbürgern in einer Stadt. Bauern leben mit Tieren zusammen: Ohne Tiere, sagte der LPG-Vorsitzende Vogel, würde ihm was fehlen. Wo ich hinschaute im Wohnzimmer, in dem wir plauderten, saß ein Kätzchen; insgesamt waren es über zehn. Ein großer Mischlingshund schaute ängstlich zur Tür herein und trollte sich wieder, als er die Fremden gerochen hatte. Am schönsten aber fand ich das Huhn, das auf dem Sofa hockte und schlief. Sein kleiner Kopf war eklig verschorft – ein Marder hatte es beim Wickel gehabt. Auf dem Sofa durfte es nur ausnahmsweise schlafen, weil es noch ein bisschen verwirrt war nach der Attacke. So etwas dürfte man auch bei uns zuweilen finden, im Westerwald, aber auch in Toftum auf der Nordseeinsel Föhr oder in Kaltenbach, Schwalm-Eder-Kreis.

Während es beim LPG-Vorsitzenden Wein zu trinken gab, weißen aus Ungarn, war es bei Lutz, dem Spediteur, wie gesagt, Bier. Während die freundliche Mutter Vogel eine große Platte mit dick belegten Broten hereingebracht hatte, schmierte man sich beim Vetter Lutz die Stullen selber; auch hier waren Wurst, Schinken, Käse üppig vorhanden und für den cholesterinbewussten Esser aus dem Westen das reine Gift. „Hau rin!“ forderte Vetter Lutz immer wieder einladend, „hau rin!“ Auch solche Ess- und Trinksitten sind vor allem ländlich-kleinstädtisch und haben wenig mit dem DDR-Sozialismus zu tun.

Dafür typisch war wieder das Schimpfen. Dass man das gute Wernesgrüner Bier, das nahebei gebraut wird, vor Ort nur durch Beziehungen erwerben kann, weil fast alles in den Export geht; ebenso die leckeren Gewürzgurken aus Lübbenau. Dabei gab es das gute Bier zu trinken und die leckeren Gewürzgurken zu essen. Denn Lutz, der Spediteur, ein breiter Mann von Mitte 40,

wusste, wie man die Versorgung mit guten Dingen organisiert; er hatte seine Infrastruktur längst aufgebaut (so hatte ich es über die Jahre auch bei der Schauspielerin in Ost-Berlin beobachtet). Während er, wie er schimpfte, zu den Kleinunternehmern gehört, die 90 Prozent ihres Einkommens als Steuern abführen mussten unter dem Sozialismus.

(Aus: Unterwegs im Beitrittsgebiet, Göttingen, Steidl 1994)