Jens Rötzsch Bukarest

Bukarest
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Bukarest, Dezember 1989 Zwei Tage vor Weihnachten 1989 erreichte mich eine Anfrage des „Stern“, ob ich in Begleitung eines Reporters über den Umsturz in Rumänien berichten wolle. Durch einen zweijährigen Ungarnaufenthalt Ende der achtziger Jahre hatte ich nicht nur einen inhaltlichen Bezug zu diesem Thema, sondern auch einige Kontakte, die uns auf der Reise nützlich sein sollten.

Aus meiner Sicht war das Ceausescu-Regime das menschenverachtendste, das es damals in Europa gab – mit politischer Unterdrückung, Deportationen, Not und Hunger. Im schreienden Widerspruch dazu: der gerade im Bau befindliche gigantische „Palast des Volkes“ in Bukarest. Noch 1988 hatte Erich Honecker dem rumänischen Diktator demonstrativ den „Karl-Marx-Orden“, die höchste Auszeichnung der DDR, überreicht, auch als Anerkennung für dessen Ablehnung der sowjetischen Perestroika …

Über die Lage in Rumänien gab es nur vage und meist unzuverlässige Berichte. Der Flugverkehr war eingestellt, und nur sehr wenig ausländische Journalisten befanden sich im Land. Unsere erste Aufgabe bestand  darin, überhaupt irgendwie nach Bukarest zu gelangen. Üppig mit Devisen ausgestattet, flogen wir Heiligabend zunächst nach Budapest. Dort erfuhren wir, dass die Grenzen nach Rumänien dicht seien, aber vereinzelt noch Züge fahren sollen. „Und kein Lokführer fährt in einen umkämpften Bahnhof ein“, sagte mein Kollege und väterlicher Freund Peter-Hannes Lehmann, ein „Stern“-Reporter, der schon aus vielen Krisenregionen der Welt berichtet hatte (zuletzt im August 1989 aus der DDR, wo wir uns kennen gelernt hatten). Lehmann gab mir mit seiner Erfahrung eine gewisse Sicherheit, mich nicht völlig auf einem Himmelfahrtskommando zu befinden.

Was wir in Bukarest erlebten, kann man in seiner Reportage lesen …


Fax aus Bukarest Peter-Hannes Lehmann

Der Schaffner im „Pannonia“-Express von Budapest nach Bukarest reißt ein Bettlaken in Streifen und bindet uns die Fetzen um den linken Arm. „Emblema Volk!“ radebrecht er. Dann knipst er das Licht im Abteil aus. Es ist kurz vor 22 Uhr. Noch zehn Minuten bis zum Nordbahnhof der umkämpften rumänischen Hauptstadt. Links von uns liegt der Flughafen, an dem immer noch geschossen wird. Gestern lag auch der Zug unter Feuer. Wir hasten über die schwach beleuchteten Bahnsteige in die Wartehalle. In der Ferne hämmert ein schweres MG. Wir stolpern über Menschen, die erschöpft neben ihren Koffern schlafen, boxen uns durch das Gewühl. Junge Leute mit gekritzelten Namenszetteln am Revers stürzen auf uns zu, reißen uns die weißen Armbinden wieder ab. Gestern hat man die ersten bewaffneten Mitglieder der berüchtigten Geheimpolizei „Securitate“ erwischt, die sich als Zivilisten gekleidet, mit Armbinden getarnt, in die Stadt einschleichen wollten. Seitdem gilt die Binde als Verräterzeichen, hat man die Kontrollen an allen Bahnhöfen und Zufahrtstraßen zum Zentrum verdoppelt. Es gibt kein Taxi. Alle verfügbaren Wagen wurden zum Verwundetentransport gebraucht. Oder um Lebensmittel in die Viertel zu schaffen, wo Freiwillige Seite an Seite mit der rumänischen Armee gegen die „Terroristas“ kämpfen, die von ihren durch weitverzweigte Tunnel miteinander verbundenen Stützpunkten wahllos in die Straßen schießen.

Zu Fuß zur Metro über dämmrige leere Straßen, in denen der Pulverdampf wie Nebel hängt. Nur in der Untergrundbahn ist die Bevölkerung sicher vor den Heckenschützen. Sicher, seitdem die Armee wenigstens die Eingänge der Geheimtunnel erobert hat, die bis zu den Metro-Schächten führen. Kontrollen über Kontrollen, bis zu sieben, acht in jeder Station. Hier wird jeder sistiert, auf Waffen abgeklopft, auch wir, obwohl zwei junge „Volkswächter“ vom Nordbahnhof, ebenfalls als Kontrolleure ausgewiesen, uns einen Weg zu bahnen versuchen. Jeder Bahnhof hat sein eigenes Sicherheitssystem, Misstrauen gegen jedermann ist oberstes Gesetz, die Passier-Parolen werden stündlich gewechselt. Die Angst vor den 70 000 „Securitate“-Kommandos, die für den Guerilla-Kampf geschult sind und mit ihren hochmodernen Waffen aus jeder Lage zu schießen gelernt haben, ist riesengroß. Erst vor wenigen Stunden hat man einen Securista überwältigt, der sich mit einer Handgranate in die Weihnachtsmesse der Haupt­kathedrale geschmuggelt hatte.

Eine junge Arbeiterin, in Plastikschuhen und ärmlichem Strickkleid, entschuldigt sich mit einem kleinen Lächeln dafür, dass sie mir zwischen die Beine greift, um nach Pistolen zu fahnden. Ihre Augen sind schmal, wässrig, blutunterlaufen. Sie hat drei Tage und Nächte nicht geschlafen, wie die meisten Jugendlichen, die hier rund um die Uhr freiwillig Wache schieben. Wer Glück hat, wird nach 24 Stunden abgelöst und sucht sich auf Bänken und Matratzen mitten auf den Perrons, zwischen Lebensmitteln und Medikamenten-Tischen, eine Ecke für kurzen Schlaf. Aus den Kleidern kommt keiner mehr. Diese 14- bis 20jährigen, die Jugend von Bukarest, haben die Revolution zu ihrem eigenen Befreiungskrieg gemacht. Krieg gegen die allmächtigen Unter­drücker, die ihre Eltern ermordet, gefoltert und terrorisiert haben. Befreiung von 45 Jahren Angst, die ein ganzes Volk seelisch verkrüppelt hat.

Nach zwanzig Kontrollen erreichen wir das Hotel „Intercontinental“ zwei Straßen entfernt vom Präsidentenpalast, wo immer noch geschossen wird. Die gläserne Eingangsfront ist ­teilweise zersplittert. Im Foyer steht ein Fernseher, umlagert von Fotografen. Alle warten auf Bilder von der angekündigten Verurteilung und Hinrichtung des verhafteten Diktators. Der Sprecher im Sender, der von Hunderten von Zivilisten und Soldaten seit Tagen gegen heftige Attacken der Geheimpolizei gehalten wird, muss die aufgeregte Nation Stunde um Stunde vertrösten. ­„Televiziunea Romana libera“ sendet stattdessen Appelle und Resolutionen der „Nationalen Rettungsfront“, der neuen provisorischen Volksvertretung, in der sich von Ceausescu kaltgestellte Alt-Kommunisten und Oppositionelle zusammengefunden haben.

Immer wieder erklingt die alte Nationalhymne aus den Zeiten der bürgerlichen Republik, und und dann und wann, für die Kinder, flimmern Mickey-Mouse-Filme über den Schirm. Ach ja, es ist Weihnachten! In der Bar drängen sich die Reporter aus aller Welt und trinken DAB-Bier, frisch vom Fass. Im Zimmer 1513, in dem „Stern“-Fotograf Jens Rötzsch untergebracht ist, zieht es. Das Doppelfenster mit Sicherheitsglas weist zwei Einschüsse auf. Vom Balkon aus sehen wir, vierzig Meter unter uns, zwei Straßenzüge entfernt, Flammen aus einem Hochhaus schlagen. Leuchtspurgarben ziehen Richtung Präsidentenpalast, Panzer-MGs rattern, ­Bazooka-Geschosse explodieren. Auf dem Platz der Republik tobt wieder der Straßenkampf. Aus Lautsprechern vom eroberten ZK-Gebäude der Partei gegenüber dem Palast werden die Terroristen zur Aufgabe aufgefordert. Heftiges Gewehrfeuer mischt sich mit der Nationalhymne, die aus den Häuserschluchten dutzendfach verstärkt in die Nacht explodiert – ein concerto infernale, Erinnerung an „Apocalypse now“. Im Bankettsaal im ersten Stock – es ist zwei Uhr – drängen sich die Hotelangestellten vor den Fernseher. Zoe, die älteste (?) Tochter Ceausescus, ist verhaftet worden, ihr Haus durchsucht. Vor den Kameras werden die Schätze ausgebreitet, die man bei ihr gefunden hat: Brillanten-Colliers, Goldschmuck, goldene Teller, goldenes Besteck, ein Umschlag mit 7 500 Dollar. Die Angestellten zischen empört. „Wenn man bei mir nur einen Dollar gefunden hätte“, sagt eine Kellnerin neben mir auf Englisch, „dann hätte man mich unweigerlich erschossen! Eine Nachbarin wurde von der Securitate nur deshalb nachts aus dem Haus geholt, weil sie einen Goldring besaß. Ich habe sie nicht mehr wiedergesehen.“

Und dann lähmendes entsetztes Schweigen: Das Fernsehen bringt neue Greuelbilder – ­Massengräber, verstümmelte Tote, Kinderleichen. „Mörder, Mörder!“ keucht ein Mann vor mir und schlägt die Hände vor die Augen. „Das werdet ihr büßen!“ Keiner schreit auf. Alle weinen nur noch. Aberwitzige Szenen am nächsten Morgen: Als hätte es das feurige Inferno gestern Nacht überhaupt nicht gegeben, spazieren Bukarester Bürger durch die zerschossenen ­Straßenzüge, sammeln Patronenhülsen aus dem Trümmerschutt vor der ausgebrannten Universitätsbibliothek als Andenken auf, tragen Brot und Äpfel zu den Panzern, die mit Lametta und Weihnachtssternen geschmückt sind, und stecken den Soldaten rote Nelken an. Gut fünfzig Panzer haben den zum Teil zerstörten Palast umstellt, in manchen Zimmern brennt noch Licht. Dort sitzt die Armee, die sich die Machtzentrale des Tyrannen Stockwerk um Stockwerk erobert hat. Unter ihr, in den festungsartigen Kellergewölben, die wieder über Tunnel mit einem Dutzend anderer Gebäude ringsum verbunden sind, haben sich die Securitate-Terroristen verschanzt. „Die Ratten haben sich wieder in ihre Löcher verkrochen“, knurrt ein Panzerkommandant. „Aber wir werden sie ausräuchern. Sie haben keine Chance!“ „Libertate!“ schreit die Menge hinter uns. „Freiheit! Vittoriei – Sieg!“ Kinder, Frauen und Männer spreizen die Finger zum V-Zeichen, schwenken rumänische Fahnen, aus denen sie das Staatswappen des verhassten sozialistischen Regimes herausgeschnitten haben. „Jos Communismul!“ – Nieder mit dem Kommunismus! Dann haken sie sich unter und singen die Nationalhymne. Vor uns, am dünnen roten Stoffband entlang, das die „Sicherheitszone“ vor dem Palast markiert, fegt ein Panzersoldat Brotreste und Glassplitter zusammen, Ordnung muss sein. Auf dem Dach des ZK-Gebäudes schlagen junge Leute Buchstaben aus der Leuchtreklame, mit der die „Traiasca Partidul Communista Roman“, die Kommunistische Arbeiterpartei Rumäniens, jahrzehntelang ihren Machtanspruch über Stadt und Land eingeglüht hatte. Die beiden mittleren Buchstabengruppen fallen. Jetzt steht da nur noch: – „Arbeiter Rumäniens.“ Ein Student im verschmutzten Mantel hält uns an, streckt uns eine halbvolle Plastiktüte entgegen. „Können Sie mir vielleicht ein paar ausländische Zeitungen schenken? Wir wollen unsere Bibliothek wieder aufbauen.“ Ausländische Zeitungen lesen – auch darauf stand früher die Todesstrafe.

„Mein Gott“, stöhnt ein Fotograf vor dem völlig ausgebrannten Kunstmuseum, das in einem Seitenflügel des Palastes untergebracht ist. „Die schönen Renaissance-Gemälde, diese herrlichen Tintorettos ...“ Und dann, zu uns, entschuldigend: „Sie müssen verstehen, ich bin Italiener.“ In der Ferne bellt es kurz auf, MG-Feuer. Bukarest hat zur Zeit andere Sorgen. Feuerpause vor dem Fernsehturm, dem seit Tagen belagerten und heftig umkämpften Machtzentrum der provisorischen Regierung. Vor dem schweren Eisentor, das von Panzern und Fallschirmjägern bewacht wird, drängen sich Hunderte von Menschen: Alte Bauern in bunter Nationaltracht, die vor den Kameras ihre Solidarität bekunden wollen, Bürger mit Händen voll Wurst und Brot, Arbeiter und Studenten, die Gewehre fordern, Politiker, die sich gerufen fühlen, und Fernsehteams aus aller Welt. Vom Tor bis zur Sendezentrale müssen wir sieben Kontrollen passieren. Schon bei der zweiten wird Adrian, ein deutschstämmiger Siebenbürgener, nervös. Er will mir die Tafel Schokolade zurückgeben, die ich ihm gerade geschenkt habe. „Wenn die bei mir ausländische Schokolade finden, bin ich dran.“ Er zittert. Noch vor einer Woche durfte er, Parteimitglied und Simultandolmetscher, bei Todesstrafe ohne Erlaubnis mit keinem Ausländer sprechen. Ich habe Mühe, ihn davon zu überzeugen, dass jetzt andere, neue Zeiten herrschen. Die Übergangsregierung hat sogar freie Wahlen versprochen und Brot für jedermann. In diesem Terror-Staat, der Tausende vor allem auf dem Land verhungern ließ, sodass sich Mütter in Angst um ihre Kinder verzweifelt beim Geheimdienst für Spitzeldienste anboten, um dafür Mehl und Milch zu kriegen, eine unglaubliche Botschaft.

Das Interview mit Ion Iliescu, Präsident der Übergangsregierung, im Fernseh-Sender kommt nicht zustande. Keiner weiß, wo er ist, wann er kommt. Vor den Senderäumen herrscht blankes Chaos: Politiker drangen hinein, Neo-Oppositionelle, die sich vernachlässigt fühlen oder von einem ganz anderen Rumänien träumen, stürzen fluchend heraus, Soldaten räumen den Saal, der sich schnell wieder füllt. Über das Fernsehen ergeht der Aufruf, nicht an einer Demonstration vor dem ZK-Gebäude teilzunehmen: Sie ist von Studenten und Intellektuellen ausgerufen worden, die der provisorischen Regierung, in der so viele ausgediente Kommunisten und frühere Machtteilhaber sitzen, nicht über den Weg trauen. Noch wird draußen gekämpft, und schon bilden sich die ersten Fraktionen. Die neue Freiheit, mit Blut und Tränen errungen, droht im Wirrwarr sich abzeichnender politischer Machtkämpfe unterzugehen. „Wir haben zu viele kleine Ceausescus in diesem Land“, sagt Adrian müde. Mit seinen 35 Lebensjahren gehört er zu der Generation der Geprügelten, die schon zu viel erlebt haben.  (Aus: Stern, 4.1.1990, mit Genehmigung des Verlages)