Timm Rautert Berlin . Das Loch in der Welt

Berlin . Das Loch in der Welt

Ich erinnere mich genau: Am 9.11.89 war ich in Frankfurt am Main. Seit 1980 war Karl Otto Pöhl Präsident der Deutschen Bundesbank, dies war Grund genug, ihn zu fotografieren. Während des Fotografierens in Pöhls Arbeitszimmer glitzerte es so schön golden. Es waren Pöhls Manschettenknöpfe in Form goldener 10-Mark-Stücke des lange verblichenen Deutschen ­Kaiserreichs. Weder Pöhl noch ich wussten an jenem Vormittag in Frankfurt, dass abends auch ein weiteres Reich auf deutschem Boden verblichen sein würde. Karl Otto Pöhl sollte später zum großen finanzpolitischen Widerpart des Einheitskanzlers werden. Er warnte vor „katastrophalen Zuständen“ für die DDR nach der Vereinigung, war für die Schaffung einer Sonderwirtschaftszone und einen Geldumtausch im Verhältnis 1:2. Der große Kanzler tat dies als Quatsch ab. Pöhl trat dann 1991, wegen zu geringem Einfluss zurück, 2010 wird er 80 Jahre alt. Mittags fuhr ich weiter nach Weil am Rhein, um das gerade fertiggestellte Vitra Design Museum von Frank O. Gehry zu fotografieren. Ich war im „Atlas Hotel“ in der Alten Straße untergekommen, und ausgerechnet dort sollte ich einen Mann mit einer riesenhaften Aufgabe ringen sehen. Ich hatte das Fernsehgerät eingeschaltet, während ich in aller Ruhe meine Kameras kontrollierte. Es war spät, an meine Ohren drangen die rätselhaften Töne einer Pressekonferenz aus dem Internationalen Pressezentrum in der Ost-Berliner Mohrenstraße, ich schaute auf. Die Untertitel auf dem TV-Gerät meldeten die Antwort des SED-Politbüromitglieds Günter Schabowski. Er hatte auf die kritische Frage eines italienischen Journalisten zum Reisegesetz der DDR geantwortet: „… und deshalb haben wir uns entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“  Jetzt war ich wach, meine Kameras waren vergessen. Auf die Nachfrage aus dem Journalistenpulk: „Wann tritt das in Kraft?“, antwortete der mit sich selbst ringende Kämpfer: „Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich.“ Na bitte. Atlas Schabowski, die Welt auf seinen Schultern.

Und ich – fassungslos – bin in die Hotelbar gestürzt. Einem einsamen Herren am Tresen ­erzählte ich vom ‚Mauerfall‘. Er sagte, ich hätte einen Knall. Nie bin ich unhöflicher in einer deutschen Hotelbar behandelt worden. Als der Barkeeper aber den Fernseher einschaltete, der Bundestag hatte seine Abendsitzung unterbrochen und die Abgeordneten sangen die ­Nationalhymne, waren alle platt. Der Herr hat mir ein Bier ausgegeben und die Höflichkeit wurde nach mehreren Getränken wiederhergestellt. Berlin war 860 km vom Hotel Atlas entfernt und Basel 7 km. Berlin war in meinem Kopf viel näher und Basel so fern. Aber erst am 13.11. bin ich dann in Berlin eingetroffen. Vom tatsächlich überfüllten Flughafen Tegel bin ich direkt zum Potsdamer Platz gefahren. Die dort stets herrschende Öde war immer noch öde, aber an einem Punkt der Mauer drängelten sich viele Menschen. Und da war es, ein Loch in der Welt, der „antifaschistische Schutzwall“ schützte nicht mehr. Auf eilig herbeigeschafften Müllbehältern — man wusste ja nicht, wer kommen würde — standen Estragon und Wladimir und warteten, naturgemäß.