Werner Mahler Cerbére (Frankreich) . Auf den Spuren von Walter Benjamin

Cerbére (Frankreich) . Auf den Spuren von Walter Benjamin
Cerbére (Frankreich) . Auf den Spuren von Walter Benjamin Cerbére (Frankreich) . Auf den Spuren von Walter Benjamin

Erfahrungswelt des Exils

Notizen einer denkwürdigen Reise auf den Spuren Walter Benjamins

September im Roussillon: Mildes Badewetter herrscht zwischen St. Cyprien, Port Vendres und Banyuls, den südlichsten Buchten der französischen Mittelmeerküste. Wahrscheinlich hält man uns hier für Touristen, die die billigere Nachsaison gewählt haben – wenn da nicht die exotischen Nummernschilder unserer Autos wären oder unsere grellblauen Pässe, deren Wust an Visa und Stempeln bislang noch jeden Zöllner ins Grübeln brachte. Wir sind aus der DDR, zwei Fotografen und zwei Schreiber, die hier, am Rande der Pyrenäen, Recherchen betreiben für ein Buch, das den Schicksalen deutscher Emigranten in Frankreich im wortwörtlichen Sinne ‚nachgehen‘ soll. Nicht nur im Westen hat das Thema seit den frühen achtziger Jahren überraschende Konjunktur. Auch in der DDR mit ihren unerschütterlich antifaschistischen Gründungsmythen ist eine Generation von ‚Kindern der Exilanten‘ nachgewachsen, die über alle kanonisierten Zeugenberichte hinaus eigenen Zugang zu den politisch wie menschlich oft komplizierten Vorgängen sucht.

Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Heinrich und Thomas Mann, Friedrich Wolf, Anna Seghers, Alfred Kantorowicz – viele haben ihre Erinnerungen an Internierung, Überlebenskampf und Flucht literarisch verarbeitet. Und hinter jedem, der seine Geschichte aufschrieb, stehen zahllose andere, deren Schicksal sich anonym entschied, manchmal noch dramatischer, oft genug tödlich, wie im Falle Rudolf Breitscheids, Carl Einsteins, Walter Benjamins …

Monatelang haben wir Lebensläufe, Erinnerungen und Protokolle studiert. Nun sollen die Schauplätze des historischen Geschehens besichtigt und für das Buch fotografiert werden: Die berüchtigten Lager der angeblich ‚unbesetzten Zone‘, in denen Flüchtlinge aus nahezu allen europäischen Ländern bei Ausbruch des Krieges interniert worden waren; in Marseille die Konsulate, vor denen die auf Ausreise Hoffenden nach rettenden Papieren Schlange standen; die geheimen Fluchtrouten über die Berge nach Spanien und weiter nach Lissabon, auf denen einige Tausend dem Zugriff der Gestapo entkamen. Deutsche Geschichte auf Leben und Tod am südwestlichen Rand von Europa.

Doch auf dem Weg zu den historischen Orten holt uns deutsche Gegenwart ein. Es ist der September 1989. Von jedem Zeitungsstand lärmen fette Schlagzeilen: Bei Nacht und Nebel über die grüne Grenze! In Botschaften gerät die Lage außer Kontrolle! Campingplätze als Flüchtlingslager! Die aus Büchern zu harmlosem Reisegepäck geschnürte Vergangenheit und die sich mit jeder Tagesnachricht greller aufdrängende Gegenwart beginnen ineinanderzurutschen. Anstatt in Marseille zügig die Liste der mühsam rekonstruierten Adressen von Hilfskomitees, konspirativen Wohnungen und ehemaligen Konsulaten abzuarbeiten, beginnt jeder Morgen für uns mit der langen Treppe hinauf zum Bahnhof St. Charles, um dort am Kiosk nach den ersten deutschen Zeitungen des Tages zu fragen. Die sind im Schnitt von vorgestern, aber geben Debattierstoff bis zum Abend. An ein Buch zu denken, wie es mit dem Verlag verabredet ist, fällt uns von Tag zu Tag schwerer. Trotzdem beschließen wir fürs erste, uns einfach treiben zu lassen, so lange das Geld reicht, von Hotel zu Hotel, quer durch den Süden Frankreichs, diese ‚klassische Landschaft der Emigration‘.

Bis an die Grenze begleiten uns vor allem zwei Zeitzeugen – Heinrich Mann (der selbst auf der Flucht vor Verrat und Verfolgung nicht aufhören kann, Frankreich zu lieben) und Varian Fry, der inzwischen berühmteste Fluchthelfer jener Zeit und anvisierter Hauptheld unseres geplanten Buches. In Cebère, auf der Terrasse des Cafés gegenüber dem winzigen Strand, fühlen wir uns wie in einer Riesenkulisse, die nur darauf zu warten scheint, dass einer kommt und sie aus dem literarischen Fundus belebt. Sogar der Monat stimmt – Zeit der Weinernte. Man braucht nur einmal den Kopf zu wenden, und schon erhalten die verschiedenen Berichte Farbe und Kontur: Der hoch über den Dächern thronende Bahnhof, selbst damals offenbar noch französisch genug, dass der diensthabende Kommissar den illegal Reisenden zwar die Weiterfahrt verweigerte, aber den heimlichen Weg über die Berge ausdrücklich empfahl. Linkerhand der Ziegensteig, auf dem Heinrich Mann und Franz Werfel den kahlen Grenzhang schräg zur ­Küste hin überwanden. Und nach hinten, landeinwärts, die Weinberge. Durch deren Gestrüpp musste jener Schmugglerpfad führen, den die spanischen Bürgerkriegsveteranen Route Lister nannten, den Varian Fry jedoch in F-Route umtaufte, F für Lisa und Johannes Fittko, zwei deutsche Emigranten, die, selber von Auslieferung bedroht, zwischen September 1940 und April 1941 über hundert Flüchtlinge hinüber nach Spanien geführt hatten. Ihr erster Schützling war zugleich auch ihr tragischster Fall: Walter Benjamin.

An einem unerträglich schwülen Tag steigen wir Benjamins Fluchtweg hinterher. Nach vier Stunden glauben wir tatsächlich, jenen legendären Ort gefunden zu haben, an dem ‚weit unten, von wo wir gekommen waren, man wieder das tiefblaue Mittelmeer sah; auf der anderen Seite […] eine Glasplatte aus durchsichtigem Türkis – ein zweites Meer? Ja, natürlich, das war die spanische Küste‘. So hatte Lisa Fittko ihn beschrieben, den Moment des Übertritts. Und noch einmal haben wir Hoffnung, jene unselige Lücke in jeglichem Bild von Geschichte schließen zu können: Nur die sie überleben, können von ihr berichten.

Fast eine Woche schon treiben wir uns in dieser Gegend herum. Jeder erste Blick am Morgen und jeder letzte bei Sonnenuntergang sucht die Zackenlinie des Gebirgskammes, auf dem wir die Grenze vermuten. Wir beobachten die Zöllner beim Nichtstun in der trostlosen Bahnhofshalle, vom Ende des Bahnsteigs starren wir auf die Tunneleinfahrt. Hoch droben fließt unablässig der Fahrzeugstrom über den Berg. Nur wir sind fixiert auf diese imaginäre Linie, die hier für niemanden noch von Bedeutung ist. Aber haben nicht auch wir in Konsulaten um die rechtzeitige Erteilung der Visa gezittert? Dafür erweist man uns endlich, zwischen Frankreich und Spanien, an einem der prominentesten Zollhäuser der Weltliteratur die anachronistische Ehre: Trotz schläfriger Mittagsstunde verschwindet der Beamte im Büro, um tatsächlich seinen Stempel zu holen.

Der Blick vom Friedhof in Port Bou auf die paradiesische Bucht wird für alle Zeit unvergesslich sein. Wie sämtliche Besucher vor uns, finden auch wir zwischen den streng übereinander gereihten Grabnischen die Stelle natürlich nicht: Jüdische Selbstmörder bekommen auf einem spanischen Gottesacker keinen Stein. Nur eine Marmortafel am Eingang für den filòsof alemany, jemand hat eine traurig verblasste Rose hinter die weiße Platte gesteckt. An dieser Stelle sind wir mit unserem Latein am Ende. Angesichts solcher Vergeblichkeit lässt sich auch mit letzter Routine keine Story mehr stricken. Was also treiben wir hier? Uns verfolgt keiner, und auf der Flucht sind wir allenfalls vor uns selbst – um am Fuße der Pyrenäen zu erfahren, was inzwischen in Ungarn, in Prag und daheim geschieht: der tausendfache Sturm auf die Drahtverhaue. Um endlich zu sehen, was wirklich ist.

So nähern wir uns der Erfahrungswelt des Exils anders, als jemals erwartet. Plötzlich sind wir es selber, deren endlose Gespräche sich um ‚zu Hause‘ drehen, angefüllt von Spekulationen und täglich tieferer Sorge. Immer deutlicher wird, dass es diesmal um alle und um alles geht. Selbst wir hier im leichten süßen Süden sind nicht weit genug davon weg. Wir werden uns entscheiden müssen: Bleiben? Oder Rückkehr? Unversehens haben auch wir unser Leben in der Hand. Als dann Bilder von Straßenschlachten erscheinen, nicht aus Beirut oder Belfast, sondern aus Dresden und Plauen, brechen wir die Reise ab.

Ankunft in Berlin spät in der Nacht vom 6. auf den 7. Oktober. Als wir am Nachmittag auf die Straßen gehen, sind das Zentrum und der Prenzlauer Berg voller Demonstranten, Wasserwerfern, Polizei und Armee. Die Stadt, die wir vor fünf Wochen für einen literarischen Ausflug in die Geschichte verließen, ist nicht mehr wiederzuerkennen.

P.S.: Das Buch „Fluchtwege“, ein gemeinsames Projekt von Ute und Werner Mahler (Fotos) sowie Leni Lopez und Wolfgang Kil (Text), ist – wie so vieles – in den Wirren der ‚Wende‘ untergegangen.