Karel Cudlin Prag, Deutsche Botschaft, Garten des Palais Lobkowicz

Prag, Deutsche Botschaft, Garten des Palais Lobkowicz
Prag, Deutsche Botschaft, Garten des Palais Lobkowicz Prag, Deutsche Botschaft, Garten des Palais Lobkowicz Prag, Deutsche Botschaft, Garten des Palais Lobkowicz

Botschafter a. D. Hermann Huber: Am 29. September erfährt unsere Delegation in New York, dass die DDR am 30.9. einer Lösung entsprechend Genschers Vorschlag zustimmen will. Die Delegation fliegt noch am selben Tag zurück nach Bonn, kommt dort am 30.9. um 8.00 Uhr an und fliegt um 16.00 Uhr weiter nach Prag. Jetzt erfahren auch wir, dass sich etwas bewegt. Ich hole den Minister am Flughafen ab. Um 18.30 Uhr treffen wir in der Botschaft ein. Wir bahnen uns einen Weg in meine Wohnung im obersten Stockwerk. Um 18.58 betritt der Minister den Balkon des mit Stockbetten vollen Kuppelsaals. Von dort spricht er zu den Flüchtlingen „Liebe Landsleute, ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland bevorsteht.“ Der Jubel der ca. 4 000 Menschen im Park ist unbeschreiblich. Genscher wird später seine Erinnerungen mit dem Satz beginnen: „Die Stunden in der deutschen Botschaft in Prag am 30. September 1989 gehören zu den bewegendsten meines Lebens.“ Wenig später beginnt bereits der Abzug der ersten Flüchtlinge zu den Bussen, die von der Botschaft der DDR bereitgestellt worden waren. Die Flüchtlinge sind überglücklich. Die Züge werden von hohen Beamten des Auswärtigen Amts, von Staats­sekretär Priesnitz vom BMB und von Botschaftsangehörigen begleitet. Um 7.00 Uhr morgens des nächsten Tages verlässt der letzte Zug Prag. Ich bin die ganze Nacht auf den verschiedenen Bahnsteigen. Um 8.00 Uhr lege ich mich schlafen. Schon lange weiß ich nicht mehr, was das eigentlich ist, Schlaf. Aber schon um 10.00 Uhr stehe ich wieder auf und schaue mir Hof, den Park, das Gebäude an. Eine gespenstische Stille liegt über dem infernalischen Chaos, das sich mir darbietet. ­Irgendwie fehlten mir die Flüchtlinge – aber das ist sicher schwer zu ver­stehen. Es war vielleicht auch die innere Leere, die man nach all den Wochen der Anspannung fühlte. DRK-Helfer laden meine Frau und mich ein, im Hof mit ihnen eine Gulaschsuppe zu essen. Wir waren dankbar dafür. Sie hatten wohl unsere seelische Verfassung bemerkt.

Gegen Mittag hatten sich schon wieder an die 200 Menschen vor dem Tor der Botschaft versammelt und begehrten Einlass. Sie waren zu spät für die Ausreiseaktion gekommen. Nach Rücksprache mit dem AA versuchte ich ihnen klarzumachen, dass sich diese außergewöhnliche Ausreise wohl nicht wiederholen ließe. Gegen 17.00 Uhr öffnete ich das Tor und die inzwischen 300 Menschen stürmten an mir vorbei in den Park. In Kürze hatten sie aus dem Chaos wieder ein ordentliches Zeltlager gemacht. Am Abend des nächsten Tages meldete ich bereits 1622 und am 3.10. 3 800 bis 4 000 Flüchtlinge. Dieser zweite Akt des Dramas dauerte nur bis zum 4. Oktober, war in seinem Ablauf allerdings fast schwieriger zu handhaben als die erste Welle. Die Flüchtlinge strömten von allen Seiten in die Botschaft. Wir konnten kaum mehr zählen. Als ich in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober die Weisung erhielt, die Botschaftspforte definitiv zu schließen, waren über 5 000 Menschen in der Botschaft und im Park und über 2 000 noch auf dem Vorplatz. Gegen 16.30 Uhr des 3. Oktober habe ich gegen den dringenden Rat der Ärzte beschlossen, das Tor noch einmal für Frauen und Kinder zu öffnen, da die Temperaturen inzwischen empfindlich gefallen waren. 600 Frauen und Kinder strömten daraufhin auf das völlig überfüllte Terrain. Ich musste sie im Heizungskeller unterbringen, dem einzigen verbliebenen Raum. Als die Ausreise dieser Menschen schließlich am 4. Oktober um 18.30 begann, waren die hygienischen Verhältnisse katastrophal geworden. Versorgung und Entsorgung waren kaum mehr möglich. Dennoch: es war zu keinerlei Panik gekommen.

(Aus: Statement der Deutschen Botschaft Prag, Internet)