Thomas Steinert Leipzig, Großzschocher

Leipzig, Großzschocher
Leipzig-Volkmarsdorf, Elisabethstraße Leipzig, Böhlitz-Ehrenberg Leipzig, Großzschocher

Meine Mansarde in Leipzig-Connewitz, Pfeffingerstraße 10, erlebte am Montag, dem 18. 9. 1989, einen hohen, von mir seit Jahren herbeigesehnten Besuch. Nach einem kurzen Gespräch, das doch eher einem Verhör glich, bekam ich von einer resoluten Dame der „Kommunalen Wohnungsverwaltung“ die Zuweisung für eine rekonstruierte Wohnung in einem weit entfernten Stadtbezirk ausgehändigt. Das Haus, in dem ich ohne Zuweisung die letzten zehn Jahre zugebracht hatte, sollte nun endlich abgerissen werden.

Im neuen Heim half mir bei der Installation des Fotolabors ein Bekannter, der als Klempner auf der Baustelle des Neubaugebietes Paunsdorf arbeitete. Dort luden wir am helllichten Tag die Rohre für die Wasserleitung, die er schon passend zugeschnitten hatte, in einen PKW-Anhänger. Dabei erzählte er mir, dass am zurückliegenden Montag, nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche, Tausende mit Forderungen nach demokratischen Reformen erstmals die Innenstadt ganz umrundet hatten. Am folgenden Montag war ich mit meiner Freundin dabei. Zunächst spazierten wir ‚ganz unauffällig‘ im Stadtzentrum herum und kamen zur betreffenden Stunde ‚rein zufällig‘ in die Nähe der Nikolaikirche. Den Fotoapparat, meine einzige Erwerbsquelle, hatte ich vorsichtshalber zu Hause gelassen. Am Eingang der Theaterpassage blieben wir vor einem Schaufenster stehen. Der Nikolaikirchhof füllte sich rasch. Die meisten Leute waren in meinem Alter. Als die Anführer aus der Kirche kamen, wurden Transparente hochgehoben, und man rief: „Gorbi, Gorbi“ und einige stimmten sogar die „Internationale“ an. Sprechchöre forderten: „Schließt Euch an“, beteuerten: „Wir bleiben hier“ oder behaupteten: „Wir sind das Volk“. Unter dem ständigen Zustrom weiterer Demonstranten setzte sich der Zug in Bewegung. Er folgte der gleichen Route, welche die Leipziger gewohnt waren an Kampf- und Feiertagen entlangzumarschieren. Vor der Oper stand ein Polizist mit Hund, der die Leute am Betreten des Rasens hindern wollte. Wir waren schon am Bahnhof vorbei, als ich sah, wie von der Fußgängerbrücke aus fotografiert wurde. Da machten wir uns aus dem Staub.

Unter der Woche besuchten wir in der Kirche am Nordplatz eine Versammlung zur Vorbereitung der nächsten Demonstration. Ein Vertreter des „Neuen Forum“ informierte im gut gefüllten Kirchenschiff die Anwesenden, nachdem er auch die unbekannten Gäste von der Staatssicherheit begrüßt hatte, über die Ziele der neuen oppositionellen Gruppierung. Zur Durchsetzung dieser Ziele sei es aber unabdingbar, wiederholte er immer wieder, dass auch die kommende Montagsdemonstration friedlich verläuft und selbst bei Verhaftungen kein Widerstand geleistet wird, denn, so seine Versicherung: „Wir holen jeden in Kürze wieder raus!“

Weil der Vater meiner Freundin ihr abgeraten hatte mitzugehen, verabredete ich mich für Montag, den 9. Oktober mit meinem Bekannten in der Manetstraße. Seine Frau ließ ihn jedoch nicht aus der Wohnung. Er solle an seine zwei kleinen Kinder denken, und fast hätte sie mich auch noch eingesperrt. Weil es schon über die Zeit war, als ich endlich loskam, lief ich dem Demonstrationszug entgegen. Die Stadt war still und die Straßen wie leergefegt. Nur vor der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit stand ein Polizist mitten auf der Fahrbahn und winkte mit seinem schwarz-weiß-gestreiften Stöckchen, bis ein Straßenbahnzug nach dem anderen – mit verdutzt um sich blickenden Fahrgästen – rückwärts fahrend um die „Runde Ecke“ bog. Ich nahm den Weg quer durch die Stadt, dorthin, wo der Zug seinen Ausgang genommen hatte. Auch hier alles wie ausgestorben, nur der Stadtfunk wiederholte abermals den Aufruf prominenter Leipziger vom Nachmittag. In den dunklen Durchgängen des Gewandhauses und der Universität standen Männer der Kampfgruppen neben ihren Transportfahrzeugen mit jungen Leuten rauchend zusammen. Ich stellte mich dazu, um ihren Gesprächen zu lauschen. Alle waren nicht nur erleichtert über den friedlichen Verlauf der Demonstration, sondern stimmten auch bei der Einschätzung der allgemeinen Lage weitgehend überein. Da nahm ich die nächste Straßenbahn nach dem Stadtteil Connewitz, um die Siegesbotschaft in meiner ehemaligen Stammkneipe zu verkünden. Wie gewöhnlich herrschte zu dieser späten Stunde bei „Frau Krause“ eine gehobene Stimmung, und mein Bericht interessierte eigentlich niemanden. Selbst als ich auftrumpfte: „Mensch – in einem Jahr sitzen wir in einer Pariser Kneipe!“, bekam ich nur zu hören: „Hier ändert sich nischt!“ Beschwingt machte ich mich auf den weiten Weg in mein neues Zuhause. Was für eine „gemiedliche“ Revolution!