Deutschlands Jubel, Conny Kind
Große und kleine Herbstgeschichte 1989
1 Hereinspaziert! Und protestiert: Diese Bilderversammlung ist eine befremdliche Provokation. Provoziert wird die deutsche Geschichte – die des Herbstes 1989. Musste das sein? Wer die Wende zum Thema einer Foto-Chronik macht, übernimmt eine honorige Pflicht. Diese hätte es geboten, das wohlverdiente Ende des SED-Regimes und den Sieg der Freiheit zu dokumentieren. Die friedliche Revolution in dekorativen Motiven – war das zu viel verlangt? Stattdessen weithin themenferne, gar private Lichtbildnerei, unwürdig unseres gewaltigen Erinnerns im deutschen Gedenkjahre 2009.
So wäre es gelungen: Man beginne mit morbiden Aufnahmen vom Niedergang der DDR (Stichwort: Ruinen schaffen ohne Waffen). Der trieb die Menschen außer Landes respektive auf die Straße (Prager BRD-Botschaft/Genscher, Montagsdemonstrationen). Am 7. Oktober 1989 feierten Erich Honecker & Genossen den 40. Jahrestag ihrer Republik, während die Volkspolizei das Volk prügelte und inhaftierte (Honi und Gorbi auf der Tribüne zeigen beim Fackelzug der FDJ, als Kontrast uniformierte Gewalt und flüchtende Demonstranten). Tage später trat Honecker ab, Egon Krenz an (grinsenden Krenz zeigen).
Das Volk siegte. Am 4. November 1989 stieg in Berlin das Volksfest der friedlichen Revolution. Hunderttausende spazierten revolutionär beschwingt durchs Zentrum der DDR-Hauptstadt (lachende Umzügler zeigen, dazu grinsenden Krenz mit Wolfsgebiss auf Demo-Plakat „Großmutter, warum hast du so große Zähne?“) und lauschten auf dem Alexanderplatz 26 Ansagern einer neuen Zeit. Unvergesslich, wie Christa Wolf wider die Wendehälse predigte. Steffie Spira befahl dem SED-Politbüro: „Abtreten!“. Stefan Heym rief: „Welche Wandlung!“ (Redner zeigen, mit Gegenblick auf die lauschende Riesenmenge, vielleicht auch Günter Schabowski, der ja herzhaft ausgepfiffen wurde.) Am 9. November hatte dann Schabowski vor der Weltpresse seinen berühmten Stotter-Auftritt, in dessen Folge die Mauer fiel (Schabowski zeigen, dazu lange Bildstrecke mit jubelnden „Wahnsinn!“-Rufern, Trabant-Schlangen und konsternierten Grenzposten). Schließlich wäre noch der Öffnung des Brandenburger Tors am 22. Dezember 1989 bildstark zu gedenken.
Zu all diesen historischen Daten gibt es viele repräsentative Fotos. Aber nein, die abseitsverliebten Veranstalter dieser Sammlung verweigern sie, bis auf Ausnahmen: kleine Abstecher in die große Geschichte, die fast wie ein Alibi wirken. Nur zwei Motive, Thomas Steinerts umgestürzte Litfaßsäule und Sighard Gilles verwackelte Demo-Impression, fixieren die Krisis der Wende, den Leipziger 9. Oktober 1989.
Warum ist das gut? Weil man die offiziellen Bilder nicht mehr sehen kann. Oder will. Man kennt sie längst. Sie wirken nicht mehr eigen. Sie berühren nicht länger. Sie drücken nichts Persönliches mehr aus. Sie sind allgemein geworden und verbraucht, verschaut. Das kann sich wieder ändern. Aber erst müsste uns neuerlich etwas befremden an der allzu vertrauten Geschichte des Herbstes 1989 mit seiner klassifizierten Chronologie.
2 Ich bin Ostdeutscher und von Beruf Reporter. In den neunziger Jahren war ich Ost-Reporter, für „Die Zeit“, die damals noch keine weiteren Ostler hatte, aber gewiss zu 95 Prozent eine altbundesdeutsche Leserschaft. Eigentlich war ich ein Spediteur. Ich transportierte Ost-Geschichten von Orten, wo sie selbstverständlich waren, dorthin, wo man sie nicht kannte. Zugleich betätigte ich mich als Parlamentär. Ich vermittelte – zwischen Ost-Verbitterung und West-Ignoranz, zwischen streitenden Ideologien, zwischen Historie und persönlichen Geschichten. Die Historie entwirft ein Geschichtsbild, eine Doktrin. Sie definiert, wie es gewesen sei. Die persönliche Geschichte protestiert häufig dagegen. Vielstimmig ruft sie: Das kann nicht sein, das war nicht alles, ich habe es anders erlebt.
Wer hat recht? Beide. Wenn sie aufeinander hören. 1976 erschien eines der wichtigsten Bücher der DDR-Literatur, Christa Wolfs „Kindheitsmuster“. Das Buch brach ein Tabu. Es fragte: Ist es erlaubt, sich einer glücklichen Kindheit im Nazi-Deutschland zu erinnern, obwohl man weiß, welche unfassbaren Verbrechen das NS-Regime begangen hat? Die Antwort lautete: Ja, es ist erlaubt und als Individualerfahrung vielfach wahr. Als Epochenurteil wäre es Lüge.
Aber wer ist Epoche? Ganz selten klingen Groß- und Individualgeschichte derart zusammen wie am 9. November 1989. Solche Simultan-Daten stiften Kollektiv-Erfahrungen, die jeder ähnlich erinnert – fast jeder. Meine Erinnerung an den 9. November 1989, die Nacht des Mauerfalls, ist: keine. Ich habe die Sensation verschlafen, in Genf. Am 5. November, dem Morgen nach dem großen Alexanderplatz-Erlebnis, durfte ich erstmals in die Schweiz reisen – eine kirchliche Dienstfahrt und ein Privileg, das sich, welthistorisch gesehen, als Bestrafung erwies. Ein Berliner, der, wenn die Mauer fällt, die Schweiz bereist, hat als Zeitzeuge versagt. Die ganze Schweiz versagte.
Am 8. November war ein Stuttgarter Kollege mit mir von Luzern nach Mailand gefahren, einfach so, Cappuccino trinken, wie in seiner Jugend. Das Autoradio erzählte, in Ost-Berlin sei das Politbüro zurückgetreten. Hinter dem St. Gotthard-Tunnel schwatzte das Radio italienisch. Im Mailänder Dom zündete ich eine Kerze an. Ich war glücklich. Und völlig durch den Wind.
So fühlte ich mich auch am 10. November in Genf. Beim Frühstück las ich, plötzlich des Französischen mächtig, auf einer Zeitung das Unfassbare: „DÉCISION HISTORIQUE: LE MUR DÉMANTELÉ! EUPHORIE À BERLIN!“ In mir sprach es: Scheiße. Hätten die nicht warten können, bis ich wiederkomme? Dienstauftragsgemäß besuchte ich den Weltkirchenrat. Dort wurde ich mit Sekt traktiert, als Abgesandter des Heldenvolks (weitere Ostvolksgenossen waren nicht greifbar). Belämmert stand ich an der Rhone und schaute, wie der Fluss nach Frankreich hinüberglitt. Ähnlich war es der frankreichreisenden Ost-Berlinerin Gabriele Eckart ergangen:
Ich weiß nur noch: Ich lief und lief Die Rhone entlang
Die Seine und die Loire Unter dem Himmel der
Mit einem Strohhalm alle Schwere aus mir sog
Ach Land wo ich nur immer meinem Kopf nachjagte
Der mir wie ein Luftballon von dannen flog
Am Sonntag, dem 12. November, bummelte ich in Basel über die Herbstmäss, ein betuliches Volksfest am Rhein. Ich futterte Maroni in der späten Sonne und versuchte mir auszumalen, wie das entgrenzte Berlin jetzt toben und feiern müsste. Plötzlich unterbrach Gebrüll den Schweizer Sonntagsfrieden. „Äkschtrablatt!“, schrie ein Kerl mit einem Zeitungskarren, „Äkschtrablatt!“ Aha, dachte ich, jetzt hat sogar Basel den Mauerfall bemerkt. Weit gefehlt. Das Extrablatt erschien aus näheren Gründen. Die Bewohner des Laufentals hatten just per Volksabstimmung entschieden, dass sie künftig zum Kanton Basel gehören wollten. Diese ungeheure Nachricht gebot eine Sonderausgabe. Ich kaufte sie nicht, sondern an einem Plattenstand Bob Dylans eben erschienenes Album „Oh Mercy“. Mit Dylan in der Tüte fühlte ich mich weniger verloren.
Sämtliche Versuche, meine Schweiz-Geschichten als authentische Mauerfall-Erfahrung auszugeben, sind fehlgeschlagen. Dabei war ich aufgewühlt wie jeder anständige Ostler. Habe ich etwa nicht geheult? Doch, bloß am falschen Ort. Deshalb bleibt mein Erinnern von der historischen, kollektiven Wende-Erzählung ausgeschlossen. Auch mein Foto zum 9. November ist denkbar unrepräsentativ. Ich fand es im Koffer versteckt: Susanne im Sommerkleid, lachblond am Brunnen, die Kamera bespritzend. Auf das Bild hatte sie gemalt: „An meine Haut lasse ich nur Wasser und CD.“
Nun ja. Ein reizendes Motiv, so anti-kollektiv wie unlöslich in meine Geschichte gebunden. Ähnliches mag der Betrachter dieser Ausstellung spüren. Nur wenige Fotos wirken typisch für den Wendeherbst. Doch anhand der Daten kann jeder sein Eigenes vom betreffenden Tage danebenlegen. Die eigene Geschichte, das ist jene, in der ich Subjekt bin. Meine Schweiz passt gut zu den DDR-fern entstandenen Bildern von Kathrin Senf (7. 9. 1989) aus den georgischen Bergen, von Werner Mahler und Wolfgang Kil (8. 9. bzw. 20. 9.), die in Südfrankreich den mortalen Fluchtweg Walter Benjamins nachgingen, von Wim Wenders (21. 11.), allerfernst in Australien unterwegs, von Peter Oehlmann in Stonehenge (11. 10.), der notiert: „Als ich zurückkehrte, war mein Land ein anderes geworden. Ich war ein wenig aus der Zeit gefallen, wie der Japaner vor den ‚standing stones‘.“ Und Karin Wieckhorst, am 1. 10. in Rom, schreibt den Namen der Ewigen Stadt notorisch groß, wie eine Gegenwelt zur DDR. Das war ja „der Westen“ zu Mauerzeiten, wo immer man seiner habhaft wurde: Das ganz Andere, Freiheit, pars pro toto, Rom wie Genf wie West-Berlin.
Und dann wendet man sich heimwärts und tut den Gegenblick, wie Alfred Seiland am Neujahrstag 1990 in Mödlareuth, dem grenzgeteilten thüringischen Dorf. Nun ist der Osten jenseits, und hier, auf dem westlichen Dorfteich, sieht man Entenhäuschen schwimmen.
3 Viele Bilder dieses Ausstellungs-Projekts empfinde ich in der langen Tradition jenes ostdeutschen Alltags-Fotorealismus, der staatsoffizielle Images konterkarierte. Einst, im SED-Staat, entlarvte diese Art des Sehens und Dokumentierens die herrschende Ideologie durch Wirklichkeit. Ein Trotz der Peripherie schien darin auf, von Arno Fischer bis Harald Hauswald, um nur zwei zu nennen, deren bekannteste Bilder zu Ikonen einer eigentlichen DDR geworden sind. Dieser Randblick ist mir sehr vertraut. Mein Vater war Pfarrer, ich habe Theologie studiert. Theologisch gesprochen, geschieht ja auch Gottes Handeln und die Offenbarung der christlichen Heilsgeschichte
sub contrario, in Gegenteiligem verborgen, anti-offiziell, machtfern, im Stall von Bethlehem. So kann man jeglichen Ort, an dem man sich befindet, als Mitte der Welt erkennen. Und sie fotografieren, wo immer man ist.
Zwei Bilder gehen mir besonders nach. Eins stammt von Jens Rötzsch, gemacht am 27. Dezember 1989 in Bukarest: eine Art Mannschaftsfoto des rumänischen Volkes, wie es vom Umbruch der DDR keines geben dürfte. Den Nucleus bildet der Soldat. Man lese dazu Rötzschs atemlos schraffierten Bericht aus dem Bukarest jener Tage. Ich erwachte am 27. Dezember 1989 in Heringsdorf und hörte im Radio, dass Nicolae und Elena Ceausescu erschossen worden waren. Bis heute bin ich dankbar für das Wunder, dass während der Wende in der DDR kein Schuss fiel, und gönne denen, die nicht schossen, einen gewissen Anteil der friedlichen Revolution.
Mein anderes Lieblingsbild besteht aus den beiden Serien, die Tina Bara am 21. September und am 20. Oktober von ihrer ausgereisten Freundin Conny aufgenommen hat. Fotografin und Fotografierte, das zeigt ihr Briefwechsel von 2009, erinnern sich durchaus verschieden und recht diffus (war’s in Wroc aw? in Kraków?). Zudem ruht im Bett der nackten Schönen ein Gauloise-Mann mit Existentialistenbrille, was die Imagination des Betrachters durchaus ermuntert. Zwanzig Jahre später gesteht Conny ihrer Freundin Tina, es gebe da „noch etwas ganz Verdrängtes“: „Noch aus den letzten Tagen in Ost-Berlin begleitete mich eine unfreiwillige Schwangerschaft, die mir vorkam, als ob unsichtbare Fäden mich wieder zurückziehen wollten, dahin, wo ich herkam – und, wo ich, wie ich jetzt weiß, immer auch hingehören werde. Diesem ungeborenen Wesen würde ich mit diesen Bildern dann doch noch gerne ein nachträgliches Denkmal setzen (…) Es war eine bewegte Zeit, aber tief im Inneren traf das Leben noch seine eigene Ansprache.“
There´s more to the picture than meets the eye, heißt es in Neil Youngs Song „Hey Hey My My“. Im Bild steckt mehr, als wir sehen. Das gilt für alle Bilder, ebenso die Umkehrung: In uns war und ist unendlich mehr, als ausgedrückt und ausgebildet werden könnte. Jedes Bild verbirgt auch. Jede Erzählung selektiert. Jedes Erinnern wird auch durch Vergessen strukturiert. Jeder Geschichtsentwurf ist spekulativ und folgt aktuellen Interessen. Die Historie, die Großgeschichte ist eine Massenorganisation. Sie vergröbert individuelles Sentiment, sie macht aus persönlichen Impressionen Embleme. Sie presst Einzelerfahrungen zur Typik. Sie harmonisiert die unzähligen Dissonanzen des Lebens zum Cantus firmus. Sie ignoriert, was sie nicht braucht.
Braucht die historische Erzählung vom Herbst 1989 Connys nie geborenes Kind? Nein. Das ist ihr nicht wichtig. Muss man Connys Geschichte kennen? Wem nützt sie? Mir, dem einzelnen Betrachter. Der offenen Weltschau, dem ungenormten Blick. Die großgeschichtlichen Embleme wieder aufzulösen, die Einzelstimmen zurückzugewinnen, das unternimmt dieses Foto-Projekt auf bildliche Art, ähnlich wie es Walter Kempowski mit seiner Synopse „Echolot“ sprachlich gelang. Das Ungleichzeitige wird simultanisiert. Alle Stimmen gelten, alle Bilder haben gleiches Recht. Sie korrespondieren via Betrachter, ohne Hierarchie und letzten Schluss, obwohl es ein Finale gibt, Thomas Wolfs Gleisdreieck vom 3. Januar 1990, das mit dezenter Symbolik ins Ungewisse schauen lässt. „Alles ist im Fließen, alles ist im Gehn / Sterne rasen auch, wenn wir sie stehen sehn.“ So schrieb es Kurt Demmler, der am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz sang, 1972 für die Klaus Renft Combo. „Schwere Bahnhofsdächer über uns gestellt / Gleise wie ein Fächer in die weite Welt / Zeit für mich, weine nicht, halt gefangen dein Gesicht / wie man auch sein rotes Blut gefangen hält.“
Die persönlichen Geschichten sind in stetem Fluss. Die Großgeschichte, so gern sie historisch abgeschlossen wäre, muss sich darüber nicht beschweren. Sie wird von den Individualgeschichten keineswegs bedroht, im Gegenteil. Die Einzelströme des Erinnerns fließen ihr zu und bewahren sie vor Verödung und Redundanz. In einem sind alle Geschichten ohnehin und immer einig: in der Richtung, im Analogon der verstreichenden Zeit. Das Foto gewährt die Illusion des timestop – temporär. Jedoch, mit Wilhelm Busch: „Eins, zwei, drei! Im Sauseschritt / Läuft die Zeit, wir laufen mit …“
Der Initiator dieser Sammlung, der Fotograf Frank-Heinrich Müller, ist 1962 geboren. Er lud vor allem generationsverwandte Fotografen ein, Bilder aus ihrem persönlichen Herbst 1989 beizutragen. Wir, die heutige Mittelgeneration, empfinden wohl am stärksten die Ambivalenz des Erinnerns an „1989“: als Hälftung und Doppelung der eigenen Biographie. Wir haben ein Leben vor und eines nach der Wende. Die DDR umgreift einen erheblichen Teil unserer eigenen Zeit. Als die Mauer fiel, waren wir jung genug, um bei vollen Kräften in die Zukunft zu gehen. Aber alle unsere Zeiten machen uns aus und erläutern einander.
Als diese Bilder entstanden, war unsere Neuzeit noch nicht auf der Welt. In zwanzig Jahren wird ihre schiere Dauer die unserer alten Zeit weit übertreffen. Dann erinnern wir uns vermutlich anders und sehen auch diese Bilder mit abständigerem Blick. Oder freier, weil die 89er Echtzeit-Gefühle schwinden? Oder resigniert, weil die Erfahrung abnehmender Lebenszeit alles Erinnern grundiert? Oder froh darüber, was vom Tage übrigblieb?
Das Vergangene steckt voller Möglichkeiten. Sie füllen dieses Buch. Sein Wesen ist die poetische Dokumentation einer Gegenwart, die wir damals nicht vom Ende her denken konnten. Die Bilder formulieren keine Definitionen. Viele wirken ganz beiläufig entstanden, nach dem Chronistenmotto des Tagebuchschreibers Victor Klemperer: „Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum.“ Vermutlich sind die Bilder heute von sich selber überrascht. Oder von uns, wenn wir ihnen sagen, was sie zu bedeuten hätten. Und was nach ihnen kam. Kurt Demmler nahm sich am 3. Februar 2009 das Leben.
4 Mein Fußball-Reporteridol, der 2004 gestorbene Erfurter Wolfgang Hempel, hat mir von einem der traurigsten Tage seiner Kindheit erzählt. Das war der 22. Juni 1941, ein Sonntag. Am frühen Morgen lief der vierzehnjährige Hempel zum Erfurter Bahnhof, um nach Berlin zu fahren. Dort würde am Nachmittag das Endspiel um die großdeutsche Meisterschaft steigen: Rapid Wien gegen Schalke 04.
Schalke war des Jungen Herzverein, die große vergötterte Mannschaft von Fritz Szepan und Ernst Kuzorra. Die Riesenschüssel des Olympiastadions hatte sich bis an den Rand gefüllt, als Rolf Wernicke, Deutschlands berühmtester Sportreporter, über die Lautsprecher eine flammende Huldigung an Führer und Wehrmacht verlas. SIEG HEIL! schrien die Achtzigtausend und sprangen auf. Schalke stürmte, Schalke traf, Schalke führte 3:0. Rapid vergab einen Strafstoß durch Bimbo Binder, seinen großen Star, der danach drei Tore schoss. Rapid Wien siegte 4:3. Der Junge floh aus dem Stadion. Schluchzend fuhr er durch die fremde Stadt, zum Anhalter Bahnhof, nach Erfurt zurück.
Acht Fußball-Weltmeisterschaften hat Wolfgang Hempel übertragen, auch das „Wunder von Bern“ 1954, Westdeutschlands 3:2-Endspielsieg gegen die schier unbezwinglichen Ungarn. Doch kein Spiel in seinem Leben, sagte er, habe ihn derart erschüttert wie jenes Berliner Finale, das sich im Nachhinein als geschichtsphilosophisches Exempel erwies. Dass im Morgengrauen dieses Tages Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfallen hatte, ging an dem Jungen völlig vorüber. Aber Schalke hatte verloren, deshalb befestigte sich in seinem Gedächtnis der 22. Juni 1941 doch noch als der fürchterliche Tag, der er in Wahrheit war.
In Wahrheit? So wäre das, was die Wiener jubeln ließ, falsch gewesen? Das kommt darauf an, wonach wir fragen – nach der großen Geschichte oder nach der kleinen. Beide konkurrieren immerfort. Deshalb tut die kleine Geschichte die große gern als Propaganda ab und die große die kleine als persönlichen Kram. Und wäre doch froh, wenn sie dem Menschen so nahe käme. Aus meiner Kindheit klingt mir ein Schlager nach, der dieses unauflösliche Miteinander wunderbar beschreibt:
1760, da gab´s den alten Fritz,
1805 die Schlacht bei Austerlitz.
Doch das ist mir ganz egal. Wichtig für mich ist:
Gestern um dreiviertel zehn, da hast du mich geküsst.
Christoph Dieckmann